Ein Sonntag im Plattenbaugebietvorstadt

60 km von Wien entfernt: eine fremde Welt

42.000 Plattenbauwohnungen auf 472 ha Fläche: das ist Petržalka, die Trabantenstadt von Bratislava. Nur selten verirren sich ausländische Besucher_innen hierhin, so etwa Wenzel Müller (Text und Fotos).  

Monoton und steril. So wirkt Petržalka von weitem, genauer: von oben, von der Aussichtsplattform des UFO-Towers. Einen größeren Kontrast kann man sich kaum vorstellen: Hier in der Höhe, oberhalb der Brücke Most SNP, der futuristische, ja trashige Turm ganz in der Form einer fliegenden Untertasse, und dort unten reiht sich ein Plattenbau an den anderen. Beim Anblick dieser Trabantenstadt mag gerade so mancher Eigenheimbesitzerin ein Schauder über den Rücken laufen: die gebaute Gleichmacherei! 130.000 Menschen leben in diesem Stadtteil von Bratislava, es ist die größte Plattenbausiedlung der Slowakei. An Petržalka grenzt auf der einen Seite, jenseits der Donau, die Altstadt an und auf der anderen die ungarische Grenze.

Herunter vom hohen Turm. Ich fahre mit dem Bus nach Petržalka und steige an irgendeiner Haltestelle aus. Ohne festen Plan und auf gut Glück möchte ich diesen Vorort durchstreifen, der in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in den Donauniederungen aus dem Boden gestampft wurde. Damals galt, in möglichst kurzer Zeit viel Wohnraum zu schaffen, und dazu erschien den sozialistischen Machthabern die typisierte Bauweise mit vorproduzierten Betonelementen am geeignetsten. Der Plattenbau avancierte zum Signum nicht nur der Slowakei, sondern des gesamten Ostblocks. 

Später Vormittag, es ist Sonntag. Wo sind nur die vielen Leute, die hier wohnen? Auf der Straße jedenfalls nicht, mit Ausnahme einiger Hundebesitzer_innen. Ich komme an einer Schule vorbei. Der Eingang ist mit Eisengittern verschlossen. Wieso diese Sicherheitsmaßnahme? Wird befürchtet, Schüler_innen könnten auf die Idee kommen, auch am Wochenende in die Schule zu gehen?

Die Eisengitter sind zum Schutz da, doch in erster Linie vermitteln sie etwas Unheimliches und Bedrohliches. Oder, bei milderer Betrachtung, etwas Befremdendes und Skurriles. Ohne Zweifel, dies hier, nur 60 km von Wien entfernt, ist eine andere Welt.

In welche Richtung ich auch schaue, mein Blick trifft zuverlässig auf einen Plattenbau. Auf einen sich sowohl in Breite als auch Höhe imposant ausdehnenden Plattenbau. Ein unangenehmes Gefühl? Keineswegs. Erstens habe ich nie das Gefühl, von den Bauten etwa eingezwängt zu werden, zweitens präsentieren die sich als farbenfrohe Ensembles. Nur ganz selten sieht man noch einen ursprünglichen Plattenbau, mit grauen Betonteilen und tiefen Fugen. Die meisten sind inzwischen saniert worden – und haben bei dieser Gelegenheit auch einen neuen Farbanstrich bekommen.

Was der Blick von der UFO-Aussichtsplattform nicht zeigt: Zwischen den einzelnen Plattenbauten ist viel Grün, mit, wieder so eine Skurrilität, jeder Menge Nadelgehölz. Wie sind die Bäume des Nordens nur in diese Tiefebene gekommen? Angenehme Überraschung: Es gibt hier auch etliche Sportplätze.

 

Die Speisekarte ist nur auf Slowakisch

 

Es ist früher Nachmittag. Zeit, etwas zu essen. Nur wo? Zwei große Supermärkte hat dieser Stadtteil, die auch am Sonntag offen haben, doch sonst sieht es mit der Versorgung eher mau aus. Im ersten Stock der langgezogenen Plattenbauten sind Geschäftslokale, allerdings zum großen Teil geschlossen – eine tote Gegend.

Dort ein Reštaurácia, das sogar am Sonntag offen hat. Die Speisekarte ist nur auf Slowakisch. Ich kann nicht Slowakisch, die Bedienung nicht Deutsch. In dieser Gegend ist man auf ausländische Besucher_innen nicht eingestellt. Ich bestelle auf gut Glück die erste auf der Karte angeführte Speise, Bryndzové halušky – und werde angenehm überrascht. Es handelt sich dabei um Nockerln mit Schafskäse und Speckwürfeln, eine slowakische Spezialität, wie ich später erfahre. Sie schmeckt sehr gut. Und das Bier sowieso.

Inzwischen ist die Sonne herausgekommen, und mit ihr die Leute. Viele gehen am Chorvátske rameno, einem toten Donauarm, spazieren. Das Schilf am Uferrand kontrastiert aufs Schönste mit den kompakten Bauten. Ein Angler hält seine Rute in das nicht sehr sauber wirkende Wasser. Große Leidenschaft mag ihn antreiben – oder große Verzweiflung.

Ich werde positiv überrascht. Eine Betonwüste hatte ich erwartet und erlebe einen recht grünen und weitläufigen Bezirk, der überaus ruhig wirkt. In Wien wohnen 5,2 Prozent aller Einwohner_innen in Plattenbauten, in Bratislava immerhin 80 Prozent.

Alle Menschen sollen den gleichen Wohnstandard haben, unabhängig von ihrem Beruf und Status. Arbeiter_innen und Ärzt_innen sollen Tür an Tür wohnen. So lautete einmal das Ziel, die programmatische Ausrichtung, der bis heute etwas Sympathisches anhaftet. 

Die große Enttäuschung erlebe ich erst, als ich die Donau überquere und wieder in die Altstadt komme. Eine mehrspurige Autobahn zerschneidet den historischen Kern! Und die Lokale haben hier Ständer vor ihren Eingängen aufgestellt, auf denen sie auf Deutsch mit «Slowakischen Spezialitäten» werben. Nein, Überraschungen lassen sich da nicht machen. Und die Bierpreise sind doppelt so hoch wie in der Vorstadt.