Eine Horde Irrer? Von wegen …Artistin

Die gnadenlose Selbstprüfung einer Großfamilie

Gesunde deutsche Frauen und Männer, die bewusst eine Kinderlosigkeit wählten, begingen einen «Rassenselbstmord». Sie müssen also sanktioniert werden. Der_die richtige Deutsche ziehe «im Eigenheim eine richtige Kinderschar auf». Was tun, wenn man auf derartige Denkweisen in der eigenen Familie trifft? Der Objektkünstler und Filmemacher Friedemann Derschmidt präsentiert den Zwischenstand seines unvergleichlichen Familienforschungsexperiments. Von Robert Sommer.

Derschmidt hat einen Arbeitsplatz, um den ihn manche beneiden. Das »Forschungslabor Film & Fernsehen» der Akademie der bildenden Künste Wien befindet sich im zweiten Stock des in den 90er Jahren vor dem Abriss geretteten Semperdepots, vormals kaiserlich-königliches Hoftheater-Kulissendepot, heute das Atelierhaus der Akademie. Mein Besuch – in Angelegenheit seines Buches «Sag du es deinem Kinde! Nationalsozialismus in der eigenen Familie» – ist anscheinend gut getimed. Eben ist meinem Gesprächspartner eine doppelte Würdigung seines bis dato beispiellosen Familienforschungsprojektes widerfahren, und entsprechend gut ist seine Stimmung. Würdigung Nummer 1: eine fünf Seiten lange Beschreibung seines Projektes im «profil»; Wolfgang Paterno scheint fasziniert zu sein von dieser «familieninternen Selbstprüfung», die das Buch zu einer Aufklärungsschrift und einem Rechenschaftsbericht zugleich mache. Würdigung Nummer 2: Auf der Leipziger Buchmesse, die gerade stattfand, wurden die «Fünfzehn schönsten Bücher Österreichs» präsentiert. Darunter das gegenständliche.

Die Jury begründete ihre Entscheidung so: «Dem Buch gelingt es durch eine äußerst konsequente, übersichtliche und informative Gestaltung, formale Klischees von damals wie heute auf neue und ungewohnte Weise zu brechen und so Interesse für ein wichtiges Thema zu wecken, von dem man glauben könnte, man habe schon genug gehört …» Verantwortlich für das raffinierte Design ist der Berliner Grafiker Manuel Radde.

Nazis kamen aus der Mitte, nicht aus dem Nichts

Wie ist das Buch entstanden? Nicht ohne die Hilfe einiger kritischer Mitglieder der Familie habe er herausgefunden, dass in «seiner» Großfamilie ein sehr komplexes Gespinst aus Mythen, Legenden und Lügen über die Vergangenheit und die Generationen der Großeltern und Urgroßeltern gewoben worden war, sagt Friedemann Derschmidt. Es verblüffte ihn, dass auch Menschen, die ihm emotional sehr nahe standen, aktiv an dieser Selbstverherrlichung der Großfamilie Teil hatten und teilweise daran bis heute festhalten: «Innerhalb dieses Kokons aus Geschichten wurde mir schrittweise immer klarer, dass nicht wenige Familienmitglieder aktive und begeisterte Nazis gewesen, viele in der NSDAP, einige sogar hohe Offiziere bei SS und SA gewesen waren und manche durchaus einflussreiche Positionen in allen Sparten der Gesellschaft während des Dritten Reiches inne hatten.»

Er habe die Ergebnisse seiner Forschungen auch deshalb als Buch veröffentlichen wollen, um seinen eigenen Beitrag zur Zerstörung eines für viele sehr bequemen Mythos zu leisten: Die Nazis sind nicht wie eine Horde Wahnsinniger aus dem Nichts gestürzt und wieder darin verschwunden. Sie waren auch keine von außen auftauchenden «Anderen», sondern sie kamen aus der Mitte der Gesellschaft. Das heißt: Die eigenen Väter und Mütter, Großeltern, Tanten und Onkel waren «die Nazis».

Paradoxerweise ist Friedemann Derschmidt, der – das Erbe der 68er-Generation auch als 1967 Geborener in sich tragend – von Institutionen wie «Blutsverwandtschaft» oder «Familienclan» nichts hält, durch die Beobachtung des Clans zum «Familienmenschen» geworden. Zum Beispiel weiß er inzwischen sehr genau, wer mit wem in welcher Weise verwandt ist. In dem Maße, in dem er von Teilen der in Oberösterreich sehr bekannten Großfamilie zum Nestbeschmutzer erklärt wurde und in dem er selbst sich als Künstler zum Projekt des produktiven und heilsamen Nestbeschmutzens bekennt, wuchs das Dilemma seiner Verstrickung in das System Familie. Wer sein Nest beschmutzen will, gibt zu, dass der Familie die Funktion des Nestes zufällt – eine nicht gerade negativ bewertete Funktion.

Die herausragende Figur des Buches heißt Heinrich Reichel. «In dem, was ich als ‹das System der Familie› bezeichne, spielte mein Urgroßvater offensichtlich eine zentrale Rolle. Er war Arzt und Universitätsprofessor und ein nicht unbekannter Vertreter der Eugenik in Österreich», schreibt Derschmidt. Seinen Studierenden bläute Reichel ein, dass Familien und Ahnenforschung ein wichtiges Werkzeug der – wie es damals hieß – «Rassenforschung» sei und dass es von großer Wichtigkeit wäre, viele Kinder zu zeugen und aufzuziehen. Er war Gründungsmitglied des «Reichsbundes der Kinderreichen». 

Sind wir das Ergebnis eines genetischen Versuchs?

Da der Rassenforscher selbst mit bestem Beispiel voranging, nämlich für eine Eigenbau-Kolonie voller Urenkel, Enkel und Kinder sorgte, konnte Friedemann Derschmidt seine Dispositionen zu Humor, Satire und Ironie ausspielen. Zumindest die «Lachenden« unter den Clanmitgliedern waren dadurch schnell auf seiner Seite. Gemeinsam mit meinem Cousin Eckhart Derschmidt veröffentlichte er im Oktober 2010 eine Internetplattform auf der Basis von Web 2.0 und forderte die Familienmitglieder auf, sich daran zu beteiligen. Der Text der Startseite war ausreichend satirisch, um seine Wirkung nicht zu verfehlen. Das wollte Friedemann Derschmidt von seiner Mischpoche wissen: «Hat der Eugeniker Dr. Heinrich Reichel zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein ganz persönliches Vererbungsexperiment gestartet? Schließlich hat er neun Kinder, 36 Enkelkinder und über 80 Urenkel. Sind wir das Ergebnis eines genetischen Versuches? Lasst uns dieses Experiment evaluieren …» Von der Gesamtzahl aller aktiven Familienmitglieder sind «im Zuge eines sehr schwierigen und schmerzhaften Prozesses», wie Derschmidt betont, bis dato etwa ein Drittel als User beigetreten. Den Humor des Künstlers konnten manche vom Clan nicht teilen.

Jedenfalls stellte sich bald heraus, dass Friedemann Derschmidt «ironischerweise», wie er betont, «zu einer Art Gegenspieler meines Urgroßvaters» geworden war. «Wie in einer Spiegelung mache ich eigentlich jetzt genau das, was er verlangte: Ich betreibe Familienforschung. Im Gegensatz zu ihm interessiert mich die genetische Weitergabe innerhalb des von den Eugenikern so genannten Erbstroms nicht im Geringsten. Ich versuche hingegen, die Weitergabe von Weltanschauungen, Ideologie und politischen Haltungen über sechs Generationen in dieser bürgerlichen Großfamilie zu thematisieren.»

Seine eigene «Bladifizierung» sei als demonstrative Kampfansage an das von Reichel und Co propagierte Körperideal des «edelvölkischen» Turners zu sehen, schmunzelt Derschmidt im Augustin-Gespräch. Die liebenswürdige Wortschöpfung Bladifizierung – sie steht für den Prozess der Erweiterung des Bauchumfangs der Älterwerdenden – sorgt im Interview für Verwirrung, weil der Herr vom Augustin nicht das wienerische «blad», sondern das englische «blood» assoziiert. Die Reinheit des Blutes spielt ja eine große Rolle im Denken und Handeln Reichels. «Trinker, Vagabunden, rückfällige Rechtsbrecher«, schrieb er 1934, wolle er von der Reproduktion ausgeschlossen wissen. Vehement sprach er sich gegen die «hemmungslose Fortpflanzung Minderwertiger« aus.

 

Der Welser Wertekodex

«Heinrich Reichel ist also posthum zum Gegenspieler geworden. Ich könnte mir vorstellen, dass du einen aktuellen und dadurch gefährlichen Gegenspieler bekommst, nämlich den neuen FP-Bürgermeister von Wels, Andreas Rabl, der ja auch irgendwie zur Verwandtschaft zählt, wie du in deinen öffentlichen Auftritten immer erwähnst», lautet meine Frage an Derschmidt. Rabl, von dem gesagt wird, er gehöre dem nationalsozialismusnahen Flügel seiner Partei an, ist vor einigen Wochen wegen eines rassistischen Vorhabens bekannt geworden. Er erklärte, die städtischen Kindergärten seiner Stadt seien «zur Vermittlung von deutschsprachigem Kulturgut verpflichtet». Bürgermeister Rabl ließ einen «Wertekodex» für städtische Kindergärten ausarbeiten, in dem Christentum und deutsche Sprache die Schwerpunkte bilden. Fünf deutschsprachige Lieder und ebenso viele deutsche Gedichte müssen jene Kinder künftig vortragen können, die einen Kindergarten der Stadt Wels besucht haben. (Anmerkung: Man könnte diesen Plan mit Soyfer-, Brecht- und Mühsam-Gedichten unterlaufen).

Friedemann Derschmidt winkt ab: Auch wenn er schon vor der Druckereiabgabe seines Buches gewusst hätte, dass ein Rabl Bürgermeister der siebtgrößten österreichischen Stadt wird, hätte er ihn nicht ausführlicher behandelt. «Ich spreche von einem Kreis von 350 Personen, wenn ich von meiner Großfamilie ausgehe», nennt er seine Definition. «Ich bin also von meinem Urgroßvater Heinrich Reichel und von dessen beiden Brüdern ausgegangen. Nur die Nachfahren dieser drei und deren Partnerinnen sind für mich relevant», grinst Derschmidt, als ob er sich als jemand ertappt fühlte, für den das Blutsband immer noch wichtiger sei als die freundschaftliche selbst gewählte Beziehung.

«Achtung, Blutsverwandte können auch zu Freunden oder Freundinnen werden», lächelt Derschmidt. Sie stünden trotz der Blutsverwandtschaft, nicht wegen ihr, in einem Freundschaftsverhältnis. Die Großfamilie ist eine Inszenierung des Bürgertums, dessen historische Bildungssehnsucht sich von der proletarischen Familie unterscheidet und wie gesetzmäßig «abtrünnige» kritische Geister wie Friedemann Derschmidt hervorbringt. An der Herstellung des Buchs wirkten unter anderem mit: Robert Brown, Klavier- und Orgelbauer; Eckhart Derschmidt, Japanologe; Mathilde Furtenbach, Pädagogin und Logopädin; Ambros Gruber, Experte für romanische Minderheitssprachen; Anton Jiresch, Psychotherapeut; Irmgard Jiresch, Psychotherapeutin; Herbert Rabl, Journalist; Agnes Suda, Erwachsenenbildnerin; Luise Wascher, Veranstaltungsmanagerin; Simon Wascher, Musiker, Volkskulturforscher; Dietmar Weixler, Anästhesist.

Eine Liste, die nach versammelter Internetkompetenz schmeckt, und gleichzeitig nach nachholender Neugierde, was die Verkettung von eigener Familie und Faschismus betrifft. Und mir – der ich von einer Familie ganz anderen Typs abstamme – bleibt die Ahnung, dass das Wissen, das sich in einer bürgerlichen Dynastie angehäuft hat, am besten eingesetzt ist, wenn es zur Auflösung der Dynastien beiträgt. Schlag nach bei Derschmidt: Zum Anrollen dieses Prozesses braucht es die Entlarvung der zentralen Figur. Vielleicht tritt dann bloß eine sympathischere zentrale Figur ans Tageslicht. Das Problem klebt am Zentralen, aber das ist wieder eine andere Frage …