Toter Sehnsuchtsorttun & lassen

Illustration: Thomas Kriebaum

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Niederösterreich hat eine Regierung. Die will noch mehr bei den Ärmeren kürzen. Niederösterreich hatte bisher schon die schlimmste Sozialhilfe in ganz Österreich. Da wäre der Satz vom «Gräben schließen, statt weitere aufreißen» wirklich passend. Es trennen Menschen bereits Schluchten von der notwendigen Hilfe. Die negativen Auswirkungen der aufgerissenen Gräben auf Menschen mit Behinderungen, Wohnen, Frauen in Not, Gesundheit, Kinder und Familien sind massiv.
Das Programm aus Niederösterreich kennen wir aus Polen, Ungarn und anderen Ländern, die den auto­ritären und identitären Pfad eingeschlagen ­haben: Sie bekämpfen nicht die Armut, sondern die Armen. Sie bekämpfen nicht die Obdachlosigkeit, sondern die Obdachlosen. Sie bekämpfen nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die ­Arbeitslosen. Sie bekämpfen nicht die Krankheit, sondern die ­Medizin. Sie bekämpfen nicht den Rassismus, sondern die Menschenrechte. Sie bekämpfen nicht autoritäre Tendenzen, sondern diejenigen, die sich rechtsstaatlich dagegenstellen. Sie bekämpfen nicht die Missstände, sondern die Zivilgesellschaft, die sie aufdeckt.
Putin träumt sich ins alte Russische Reich, Erdogan ins Osmanenland und Orban beamt sich nach Großungarn zurück. Die niederösterreichische Regierung verlegt ihre gesellschaftliche Vision ins Österreich der 1960er-Jahre. Nach vorne in die Vergangenheit. Die vorgestellte Unversehrtheit und verlorene Größe wird in Orte der Vergangenheit phantasiert. All das ist natürlich Teil einer Rekonstruktion. Eine solche Rekonstruktion braucht es erst nach einem Verlust. Gerade weil die vollen nationalen, religiösen, kulturellen Identitäten nicht mehr greifen, kommt es zu einer massiven Gegenbewegung. Kann es sein, dass der Identitäre «an jenem Ort der Vergangenheit, von dem er die ­Heilung der Gebrechen seiner Gegenwart erhofft, nicht vielmehr ihren Ursachen ­begegnet?», fragt der Psychoanalytiker Sama Maani. In der islamistischen Regression beispielsweise, bei der sich die von Mangel gezeichnete Gegenwart, in der Hoffnung auf Erlösung, nach einer «glorreichen Vergangenheit» zurücksehnt. Wenn sich aber der «glorreiche» Sehnsuchtsort ebenfalls als Ort des Mangels herausstellt, unerlöst, tot? Jener Sehnsuchtsort wäre dann der Ort eines nicht eingestandenen Zweifels, lebendig nur als verzweifelte Wut über die eigene Ohnmacht. Und einer nicht gestellten Frage an einen ohnmächtigen Gott: Warum hast du uns verlassen?
Ähnlich stellt sich der niederösterreichische «glorreiche» Sehnsuchtsort einer Gesellschaft, wie sie einmal vermeintlich war, als ein einziger Mangel da. Diesen Ort hat es so nie gegeben, er ist tot, eine Fiktion, ein ­Betrug. Die völkisch «reine», kulturell homogene Vergangenheit gibt es nicht. Was es aber gab, war eine Vergangenheit, die den Versuch unternahm, sie autoritär und mit Gewalt herzustellen. Niederösterreich hat eine ­Regierung, die die schlechte Sozialhilfe weiter kürzen will. All diese Ideologien der Ausgrenzung und des Sündenbocks wirken wie Drogen. Um dieselbe Wirkung wie vorher zu erzielen, muss die Dosis erhöht werden. Wenn die politische «Mitte» Inhalte der Hetze übernimmt, wird auf Seiten der Hetzer:innen stets die Dosis erhöht. Die Hetze bestätigen, heißt, sie anzufeuern.