Corona hat die Digitalisierung in Österreich beschleunigt, hört man. Unter dem Schlagwort Digitalisierung wird vieles verhandelt – von E-Commerce übers Internet der Dinge bis hin zum 5G-Netz. Ein Essay über das, was digitale Technik (nicht) ist – und warum sie erst zur Sprache kommen muss.
Text: Barbara Eder, Illustration: Ruth Weismann
Wenn Manager_innen und Industrielle aufeinandertreffen, herrscht gemeinhin rege Betriebsamkeit – so auch bei den Meetings des Arbeitskreises Industrie 4.0 der Wirtschaftskammer Österreich. Referent_innen von TÜV Austria und dem Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung präsentierten dort im Frühjahr «neue digitale Businessmodelle mit Mehrwert», die mehr als nur technische Lösungen in Aussicht stellen. Flotte Anglizismen schwirrten durch den Raum, das Wort Innovation war in aller Munde. Innovation etwa durch Cyber Physical Systems, dem Internet of Things, einem mit Sensoren ausgestatteten Smart Home für Senior_innen und den halbautomatischen Fertigungsstraßen von Mixed Model Assemblies, die kognitive und physische Entlastung in Produktion, Montage und Logistik garantieren sollen. Das eigentliche Problem, das mithilfe von digitalen Technologien wie diesen gelöst werden soll, war vieler Worte nicht wert, und das, was der dazugehörige Jargon verspricht, blieb oft vage.
Zeitmaschine und Wirtschaftsmotor.
Technik – das sei an dieser Stelle vorausgesetzt – ist keineswegs nur ein Wirtschaftsmotor, sondern zuallererst eine Zeitmaschine. Sie ist eine Ansammlung von Werkzeugen, die Arbeitsabläufe erleichtern können, indem sie diese verkürzen. Technik kann also Zeit reduzieren, sie macht Dinge möglich, die erst durch freie Zeit denkbar werden. Dieser ursprüngliche Zweck mag – abseits der dabei im Vordergrund stehenden Ersparnis von Lohnkosten – auch bei industriellen Anwendungen zum Tragen kommen, die heute gebräuchlichsten Produkte der Informations- und Unterhaltungselektronik haben indes andere Aufgaben.
Kulturelle Leistungen von Smartphones reichen von Informationsbeschaffung über Amüsement bis hin zu Zerstreuung, und auch mit Messenger-Kommunikation und digitalem Gezwitschere kann man viel Zeit verbringen. Was währenddessen in unseren Geräten wirkt, bleibt den meisten Anwender_innen jedoch verborgen – und ist niemals nur digitalen Ursprungs: Ohne Batterien, Akkus, LEDs und Widerstände würden Router, Laptops oder Fernbedingungen ebenso wenig funktionieren wie Computer-Software ohne Hardware, selbst die avancierteste digitale Anwendung wäre ohne analogen Unterbau undenkbar.
Digitales und Analoges arbeiten stets im Zusammenspiel, sie operieren in einem komplexen Verweiszusammenhang. Zu «digital devices» wurden unsere Geräte hingegen erst durch die Einbindung ins World Wide Web, eine historisch junge Entwicklung, die auf die eigentlichen Anfänge dessen, was heute Digitalisierung heißt, verweist. Bereits in den Neunzigern des letzten Jahrhunderts wurde das Telefonieren digital, erste Experimente zur transnationalen Kommunikation zwischen Rechnern gab es hingegen schon in den Siebzigern. Inter-Net heißt Zwischen-Netz und damit auch, Computer über die Begrenzungen lokaler Teilnetze hinweg zu verbinden. Durch das von Robert Kahn und Vinton Cerf entwickelte Transmission Control Protocol (TCP), das mit dem Internet Protocol (IP) 1983 zum TCP/IP-Stack fusioniert wurde, wurde kabellose Konnektivität möglich. 1984 kam mit dem Domain Name Service (DNS) die Erstversion eines Adressverzeichnisses für das Internet hinzu. Seither ist Digitalität auch eine Frage der Repräsentation: Ein digitales Signal wird im Messdiagramm als Auf und Ab entlang einer Null-Eins-Skala dargestellt, analoge Signale zeichnen sich darauf als versetzte Sinuskurven ab.
Verstecktes Wissen.
Ob analog oder digital: Was dabei eigentlich bedient wird, bleibt gut versteckt hinter Hüllen aus Hartplastik. Damit ist es Teil einer Politik technischen Nicht-Wissens, die von den Hersteller_innen
kommerzieller Digitalprodukte gezielt forciert wird. Nur wenige kennen den Programmcode hinter einem Smartphone-Icon, und noch weniger bekannt ist, in welcher Weise der Klick darauf die Verbindung mit einer Website initiiert, die auf dem Display eines Geräts erscheint. Fragen danach werden entweder zur exklusiven Angelegenheit von Computernerds oder fallen in den Zuständigkeitsbereich von Digitalisierungs-Expert_innen, die sich ihrem Thema nur selten von technomateriellen Grundlagen her annähern.
Die Hypothesen, die von selbigen erhoben werden, sind vielfältig und oft kühn. Sie erzählen von der Verwandlung der Welt in Binärcodes, vom Verlust von Materialität und Unmittelbarkeit im virtuellen Raum und der damit einhergehenden Transformationen der Ding-Welt, vom Rückgang des Leseverstehens im Zeitalter der Wisch-Funktion, kombiniert mit schlechter Ernährung und Übergewicht, von einer «4. Industriellen Revolution», die trotz andauernder Stagnation der allgemeinen Profitrate im IT-Sektor als gegeben hingenommen wird, von einer Beschleunigungspolitik des kapitalistischen Krisenprojekts und der von Václav Klaus, tschechischer Ex-Ministerpräsident, zuletzt monierten Fortsetzung des proto-sowjetischen Elektrifizierungsprogramms der 1920er unter veränderten Vorzeichen oder aber dem Aufkommen eines Überwachungskapitalismus der übelsten Sorte, unter Generalverdacht gestellt etwa von der US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlerin
Shoshana Zuboff.
Das was derzeit Digitalisierung heißt, wird nur selten als Marketing-Strategie globaler Konzerne betrachtet, stattdessen ist es ein Diskurs aus wüsten Spekulationen und tief sitzenden Ängsten, die Symptom einer ganz anderen Krise sind: nämlich der, dass wir alle Technik kennen, die funktioniert, nicht aber eine dazugehörige Kultur der Vermittlung, die erklären könnte, was passiert, wenn etwas funktioniert. Wissen über das, was scheinbar von selbst funktioniert, scheint es abseits der in technischen Hochschulen und anderen höheren Lehranstalten herangezüchteten Expert_innen kaum zu geben. Zu einem historischen Zeitpunkt, an dem Technik zunehmend zur zweiten Natur wird, gibt es dafür weder Pädagogiken noch Vermittlungsformen – auch infolge einer langen Geschichte getrennter Wissenskulturen.
Pädagogik von Natur und Technik.
Natur, das ist die Wahrheit des Kosmos, und dieser Kosmos ist schön – so verstanden die alten Griechen ihre Ontologie. Das von Aristoteles entworfene Weltbild wurde bis ins 17. Jh. als von so vollkommener Ordnung und Schönheit angesehen, dass es für wahr gehalten werden musste. Technik hingegen, die entdeckt nichts in der Natur, Technik ist ein Datengarten, gemacht aus mathematischen Formeln und empirischen Messdaten, weshalb sie auch den sperrigen Gegenpol zu einer humanistischen Pädagogik bildet, die im Guten das Natürliche und im Natürlichen das Schöne sieht.
Als Galilei die geistlichen Gelehrten am Florentiner Hof zu einem Blick durch das Fernrohr aufforderte, taten sie aus Angst vor Unordnung und Disharmonie die Tragweite seiner Beobachtung ab. Ein Jahrhundert später gerieten Gott und Welt im Zuge der Aufklärung aus den Fugen, weshalb Bertolt Brecht in Galilei auch einen der letzten Garanten einer Politisierbarkeit naturwissenschaftlich-technischen Wissens sah. Heute ist die Welt ein immaterieller Ort am Rechner, den man drahtlos überfliegen kann, seit Ausbruch der Coronakrise bevorzugt im Fernwartungsmodus. Was bei diesen sekundenschnellen Flügen durch Zeit und Raum im Hintergrund passiert, wissen immer noch die wenigsten, denn industria, das bedeutet Fleiß und nicht Erkenntnis. Ohne «Hacking» und «Open Source-Kultur» wäre das Wissen um Rechnernetze und Computerkommunikation bis heute exklusiv. Systemtheoretisch gesehen ist Digitalisierung aber viel mehr als nur die nicht-triviale Kommunikation mit trivialen Maschinen: Sie wäre ein gesellschaftliches Projekt und als solches zu formulieren. Schlimmstenfalls bedeutet Digitalisierung Windows 10 auf allen Rechnern, bestenfalls aber: wissend werden, gegen die Natur.