«Gedichte sind haltbarer als Prosa»Artistin

Ruth Klügers Gedichtband «Zerreißproben» versammelt Lyrik aus sechs Jahrzehnten

Ruth Klüger, Dichterin, Germanistin, Prosaautorin, gibt mit «Zerreißproben» einen Einblick in ihr Lebenswerk. Und gesteht sich zu, es selbst zu interpretieren, weil «die Verfasser ja die einzigen sind, von denen die Leser mit Sicherheit annehmen dürfen, dass sie sich etwas gedacht oder zumindest geahnt haben.»

Bekannt wurde Ruth Klüger 1992 mit «weiter leben. Eine Jugend». Dieser Erfolg, mit dem sie der literarischen Verarbeitung des Holocausts ein spätes, sprachmächtiges Werk beisteuerte, beförderte auch ihren verdienten Ruf als Germanistin, doch er legte sie zudem auf ihr zeitgeschichtliches Vermächtnis fest. Wahrscheinlich trügt der Eindruck nicht, dass sich Ruth Klüger dabei oft unbehaglich fühlte, zumal das Erlebnis der NS-Vernichtungsmaschinerie einerseits ihr prägender Lebenstopos ist, dessen sprachliche Bewältigung sie mit didaktischem Eifer in die Welt trägt. Andererseits geschieht dies zu Ungunsten ihres restlichen Œuvres, ihrer feministischen Reflexionen zur Literatur etwa («Frauen lesen anders», 1996) oder ihrer lebenslangen Beschäftigung mit Lyrik, als Dichterin und Interpretin. Der Markt macht es vielseitigen Menschen nicht leicht, denn er braucht klare Positionierungen im Marktregal, und hat sich ein Etikett einmal bewährt, wird der Markt das Produkt nicht umetikettieren, auch wenn dieses es wünscht. Das Produkt wird selten gefragt.

 

Kurzum: So zynisch es klingen mag – die Germanistin und Lyrikerin hatte es stets schwer, gegen die Schublade Holocaust-Überlebende anzukämpfen, zumal sich Ruth Klüger gar nie weigerte, in ihren Schriften darauf zu rekurrieren. Noch dazu schiebt sich gerade bei der künstlerischen Reflexion des NS-Terrors durch Überlebende das Ereignis verständlicherweise vor die Form, ein für Künstler_innen, deren Ausdruck nun einmal die Form ist, mitunter ärgerlicher Umstand, da ihr Werk dann mehr wegen seiner Authentizität als seiner Qualität rezipiert wird. Dass sich unter den Schriften der Überlebenden dennoch so selten sprachlich dürftige Literatur findet, wirft Fragen auf, deren Beantwortung hier zu weit führen würde (und auch nicht unheikel ist).

Der Zsolnay Verlag hat nun Klügers gesammelte Gedichte aus sechs Jahrzehnten aufgelegt, eine ungewöhnliche Kombination aus Fragmenten einer Autobiografie, Gedichten und deren Interpretationen. Ein Buch jedenfalls, mit dem es der Autorin gelingt, die Aspekte ihrer Persönlichkeit – für 120 Seiten zumindest – zu einem Ganzen zu fügen. Wer Lyrik liebt, aber nicht Erbauungslyrik, wird dieses Buch lieben. Bereits die Gedichte, die Ruth Klüger in «weiter leben» und anderswo gestreut hatte, hatten mir unerwartet ins Herz gefasst. Mit einem Jahreszeitlicht für den Vater zählt für mich zum Beispiel zu den schönsten und formal besten, die ich kenne.

 

Als Literaturwissenschaftlerin weiß Ruth Klüger natürlich viel über die Formgesetze. Das kann von Nachteil sein – muss es aber nicht, zumal sie viele ihrer Gedichte bereits vor dem Studium verfasst hat. Stilistisch spiegeln sich in ihren Piecen die Entwicklungen der letzten zwei Jahrhunderte wider: von konventionellen Reimen zu moderneren Formen, von klarer zu experimenteller Metaphorik, von Gedanken- zu Empfindungslyrik. Eine durchgängige Signatur bleibt aber auch in der Stilvielfalt erhalten. Und obwohl im Bann von Verbannung und Vernichtung findet ihre Poesie in allen möglichen Lebensbereichen Ort und Sujet. Besonders reizvoll (und beinahe heiter) ihre Schilderung zweier Literaturwissenschaftlerinnen in Wien auf den Spuren ihrer Jugend (Ist das Heimweh?).

Da aber Ruth Klüger nicht nur Lyrikerin ist, sondern auch Lyrik analysiert, folgen jedem Stück Kommentare. Und damit sie den Leser nicht beeinflussen, stets auf der nachfolgenden Seite. Dennoch laden sie dazu ein, zurückzublättern und das jeweilige Gedicht erneut zu lesen. Man kann Klügers Interpretationen auch überspringen, davon rate ich aber unbedingt ab. Denn sie sind literarisch mindestens so ergiebig wie die Gedichte selbst: in unakademischer, aber klarer, bildreicher Sprache, dafür höchst lehrreich zum Verstehen von Lyrik allgemein. Es stimmt schon, Literatur sollte für sich selbst stehen, doch bevor die Fachleute interpretieren, sollte man dem/der Autor_in das Recht einräumen, es selbst zu tun, und wenn diese_r noch dazu eine Fachfrau wie Ruth Klüger ist, erst recht: «Die Dichterin», schreibt sie im Vorwort, «ist meist froh, überhaupt gelesen zu werden, und erwartet nicht, dass sie obendrein noch verstanden wird. Der gemeine Leser fühlt sich vernachlässigt, wenn nicht geradezu verachtet. Die gelehrten wie auch die intuitiven Interpreten sind unzuverlässig. Die verschämte Bescheidenheit aber, die vom Dichter verlangt wird, hindert ihn daran, den falschen Auslegungen zu widersprechen.»

Ruth Klüger: Zerreißproben. Kommentierte Gedichte. Zsolnay Verlag 2013. 14,90 Euro