Glänzend schwarze Haare im Fahrtwindvorstadt

Anna Lallitsch, geboren 1992, kommentiert seit sechs Jahren für den ORF Fußballspiele, Skibewerbe und andere internationale Sportereignisse – auf dem zweiten Tonkanal. Mareike Boysen (Text) und Nina Strasser (Fotos) haben sie an einem Arbeitstag begleitet.

Um elf am Vormittag meldet sich Anna Lallitsch telefonisch. Sie komme wegen des dichten Schneefalls auf der Südautobahn kaum voran, sagt sie. «Ein Wahnsinn ist das.» Für die 200 Kilometer lange Strecke von Graz nach Wien braucht sie schließlich fast drei Stunden. Es sei aber noch leicht genug Zeit für Fotos, sagt sie, während sie in einer schwarzen Raulederjacke mit Fellbesatz routiniert durch die Irrwege im Erdgeschoss des ORF-Zentrums am Küniglberg führt. Fragen könne man ihr ohnehin jederzeit stellen, solange sie nicht on air sei. «Nervös», sagt Lallitsch, «werde ich bei Synchronschwimmbewerben oder beim Eiskunstlauf. Aber nicht beim Slalom in Zagreb.»

Auftrag Barrierefreiheit.

Das jährlich zu Jahresbeginn am Bärenberg ausgetragene Rennen Snow Queen Trophy, Teil des alpinen Ski-Weltcups der Frauen, zählt für Lallitsch zu den Routineübungen. Als freie Mitarbeiterin von Audio2, eines in Wien ansässigen Anbieters medialer Dienstleistungen für hör- und sehbeeinträchtigte Menschen, liefert sie seit 2013 Live-Audiodeskriptionen für Sportübertragungen im ORF. «Mein Job ist es», sagt Lallitsch, das zu beschreiben, was ich sehe. Ich bin sportbegeistert, Bergläuferin und Hobby-Skifahrerin, aber ich sehe mich nicht als Expertin für eine bestimmte Sportart. Ich bin Expertin für den Blindenkommentar.» Von den Kollegen auf der ersten Tonspur unterscheidet sie außerdem der Co-Kommentator. Da die Sprechfrequenz auf dem zweiten Kanal eine wesentlich höhere ist, wird ausschließlich zu zweit und in regelmäßigen Wechseln audiodeskribiert.

«Es begrüßt Sie Ihr Audio2-Team im Auftrag des ORF: Wolfgang Slavik …» «Und Anna Theresa Lallitsch. Ja, derweil dass Österreich im Schnee versinkt, ist es in Zagreb a bissl anders: Da sind quasi nur die Pisten weiß.» In einem kaum zehn Quadratmeter großen Live-Studio mit schwacher künstlicher Beleuchtung hat das Duo des zweiten Tonkanals an einem langen Pult Platz genommen. Slavik, Audio2-Springer und seit knapp einem Jahr Stadionsprecher von Austria Wien, trägt wie Lallitsch ein Headset. Ein mittelgroßer Bildschirm an der Wand zeigt das Live-Bild von ORF eins. Wettkampfatmosphäre aus dem Labor liefern zu müssen, scheint beiden keine Kopfschmerzen zu bereiten. «Emotionen zu vermitteln gehört zur job description», wird Lallitsch in einer kurzen Pause sagen. Ihr hauptsächlicher Anspruch aber sei ein anderer: «Jemand, der uns zuhört, muss sich nach dem Bewerb mit jemandem, der ihn gesehen hat, ohne Nachteile unterhalten können. Wir wollen den Sport sichtbar machen.»

Von weiß-blau-roten, kunterbunten und grauen Rennanzügen ist im ersten Durchgang die Rede, von schwarzen Helmen, hochgezogenen Armen, auseinandergerissenen Beinen, durchgestreckten Hüften, quergestellten Skiern, von aufblasbaren Banden und Fahnen mit weißem Kreuz auf rotem Grund. Ein großes Thema ist auch die Kopfbehaarung der Läuferinnen, die sich in den meisten Fällen lang, blond und im Sinne des Fahrtwinds verhält. Neben der Beschreibung jedes Laufs anhand der Pistenabschnitte, Tore und Zwischenzeiten fällt die Kommentierung von speziellen Kameraführungen und Einblendungen in den Zuständigkeitsbereich von Lallitsch und Slavik. Die Körpersprache der Athletinnen nach dem Zieleinlauf rangiert heute zwischen der späteren Siegerin Mikaela Shiffrin, «die uns ein Lächeln in die Kamera schenkt», und Bernadette Schild. «Und sie ist ratlos, schüttelt die Arme zur Seite und kann es gar nicht glauben, dass sie da so viel Rückstand aufgerissen hat», ruft Slavik. «Bernadette Schild, die blonden Haare wehen hinten im Fahrtwind. Im Hintergrund hören wir einen Helikopter.» Dass Lallitsch, die sich in ihrem Sessel weit zurückgelehnt hat, im Hauptberuf Radiomoderatorin ist, lassen die dramatischen Pausen ihres Kommentarstils erahnen. «Bei der Antenne Steiermark ist es wie hier», sagt Lallitsch. «Ich will unterhalten. Das ist das Ziel.»

Konkurrenz zum ersten Tonkanal.

Ob ihre sportliche Fangemeinde über Hausmannstätten, den 3300-Seelen-Ort südöstlich von Graz, in dem sie aufgewachsen ist, hinausreicht, traut sich Lallitsch nicht zu sagen. Ab und zu erreichten sie lobende E-Mails. «Es gibt außerdem immer wieder ORF-Zuseher, die sich in unseren Kanal verirren und sich dann beschweren, weil wir so viel reden», sagt Lallitsch. «Das ist für uns das schönste Kompliment: Wenn auffällt, dass wir weniger voraussetzen und mehr erklären als unsere Kollegen, machen wir unseren Job richtig.» Ein häufigeres und zunehmendes Phänomen sind visuell unbeeinträchtigte Zuseher_innen, die Sportübertragungen bewusst auf dem zweiten Tonkanal verfolgen. Bei Fußballländerspielen, vermeldet die Pressestelle des ORF auf Anfrage, liege die Nutzer_innen-Quote bei etwa zwei Prozent.

Eine mögliche Ursache für die Beliebtheit des Audio2-Stils liefert ein ideeller Zugang, den Lallitsch formuliert und dem sich Kollege Slavik nickend anschließt: «Im Sport ist der Fairnessgedanke vordergründig, und der gilt auch für uns.» Was sie nicht aushalte, sagt Lallitsch, seien Wertungen. «Natürlich soll man Dinge beim Namen nennen, und wenn etwas nicht hinhaut, haut es eben nicht hin. Aber kein Sportler denkt sich doch: ‹Boah, jetzt ist Wochenende, ich weiß nicht, was ich machen soll, fahre ich also nach Zagreb, stelle mich an die Piste und schaue, was passiert.› Wenn ihm dann ein Kommentator unterstellt, dass er sich nicht bemüht oder zu wenig trainiert hat, kriege ich die Krise.» Dass von ihr trotz des Neutralitätsgebots verlangt werde, zu den Österreicher_innen im Startfeld zu halten, sieht Lallitsch ein. «Für mich persönlich ist aber egal, woher jemand kommt. Ich will einen geilen Sport sehen.»

Befragt nach den Höhepunkten ihrer bisherigen Kommentatorinnenlaufbahn, sagt Lallitsch: «Jedenfalls Fußball. Ich liebe Fußball.» Schließlich hat dort, bei ihrem Heimatverein Sturm Graz, alles begonnen: Vor sieben Jahren, Lallitsch hatte sich gerade für ein Jus-Studium inskribiert, schlug ein Bekannter sie als Sprecherin für das Stadionradio, den Live-Audiokanal für Sehbehinderte, vor. «Audio2, der Betreiber, hat damals eine Frau gesucht», sagt Lallitsch. Bis heute sitzt sie bei Heimspielen am Mikrofon.

Geschützte Räume.

Innerhalb des klar männlich dominierten österreichischen Sport- und insbesondere Fußballjournalismus macht das Handlungsfeld von Audio2 den Anschein eines Refugiums. Die Frage, ob Sexismus dort seltener auftritt, wo Integration Teil des professionellen Auftrags ist, hat Lallitsch sich selbst noch nicht gestellt. Die 26-Jährige ist keine Feministin im ideologischen Sinn, Sportjournalismus sieht sie nicht als Politikum. «Gleichberechtigung ist wichtig», sagt sie, «aber dass wir sie zum Thema machen müssen, ist aus meiner Sicht schon falsch.» Sie wolle einfach ihren Job machen, wiederholt Lallitsch in der Kantine des ORF-Zentrums mehrfach, und das so gut wie möglich. «Natürlich braucht man eine dicke Haut», ergänzt sie auf dem Weg zurück ins Live-Studio, «denn es gibt viele Neider. Bei Kritik unterscheide ich inzwischen, ob sie mich weiterbringt oder ob mich mein Gegenüber kleinmachen will. Nur weil ich eine Frau bin, soll ich mich im Fußball nicht auskennen können? Das habe ich noch nie verstanden.»

Während die Moderatorinnen Alina Zellhofer und Kristina Inhof seit einigen Jahren für das Fußballressort des ORF vor der Kamera im Einsatz sind, liest sich die Liste der einschlägigen Kommentatoren auf dem ersten Tonkanal weiterhin abwechslungsarm: Michael Bacher, Dennis Bankowsky, Peter Brunner, Boris Kastner-Jirka, Thomas König, Oliver Polzer, Michael Roscher, Didi Wolff. Der Jüngste im Bunde ist 1975 geboren und damit 17 Jahre älter als Lallitsch. Ob sie selbst zum ersten Tonkanal wechseln würde, wenn man es ihr anböte? Lallitsch macht vor der Tür zum Studio Halt, streicht die schwarzen Haare hinters Ohr und schenkt der Kamera ein Lächeln. «Ich bin bereit.»

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