Grünstich, Troubles, Rockgigantenvorstadt

Eine Insel im Atlantik, geteilt durch eine unsichtbare Grenze in die Republik Irland und in das dem Vereinigten Königreich zugehörige Nordirland. Eine Reise mit dem Faltrad, den für die Insel heiklen Brexit in Griffweite.
Text & Fotos Mario Lang

Auszüge aus dem Reiseblog:

Nordirland/Belfast. Die vorbeifliegende Landschaft ist in erster Linie grün, grün in allen Schattierungen. Der Grenzübertritt nach Nordirland wird verschlafen, farblich hat sich nichts verändert. Am Horizont wartet ein Bett in Belfast.
Gefahr lauert an jeder Ecke, die Rechts-Links-Problematik macht die erste Ausfahrt zum Abenteuer. Schau genau! Und immer andersrum als gewohnt. Hop-on, Hop-off auf der Busroute mit dem Faltrad durch die Stadt. Belfast eine zerrissene Stadt – teils verfallen, teils rausgeputzt, teils in Arbeit. Runter zum Fluss, der Lagan entspringt in den Bergen von County Down, fließt durch die Stadt und mündet in die Bucht von Belfast. An seiner Mündung residiert das Titanic-Belfast-Museum. Der Luxusliner verließ 1912 zum ersten und letzten Mal den Belfaster Hafen, der Rest ist Geschichte. An Tragödien hat Belfast keinen Mangel – da wären noch die immerwährenden «Troubles» zwischen Katholik_innen und Protestant_innen, IRA und Ulster Volunteer Force. Die katholische Falls Road und die protestantische Shankill Road trennt eine durchlässige Friedensmauer, die bei Bedarf dicht gemacht wird. Tagsüber gehört die «Peace Line» den Tourist_innen. Busladungen werden ausgeschüttet, und die Mauer ist um hunderte Messages reicher. Jede Seite hat ihre Helden, auf der Falls Road wird Bobby Sands (Mitglied der IRA, starb am 5. Mai 1981 an den Folgen eines Hungerstreiks) auf Wandbildern ver­ehrt, in der Shankill Road wird der Queen gehuldigt. Auf beiden Straßen herrscht Alkoholverbot. Im Pub in der Falls Road laufen auf riesigen Bildschirmen Pferde um die Wette, in der Shankill Road tobt gerade die Happy Hour, und der Tenor ist einhellig: «Better poor, but british».

Nordirland/Coastal Causeway. Vorbei an katholischen und protestantischen Vierteln, leicht voneinander zu unterscheiden: Die protestantischen Häuser sind üppig beflaggt, es weht der Union Jack. Ein Wandbild am Stadtrand beschreibt die immer noch vorherrschende Lage: «Prepared For Peace – Ready For War!»

Einschlafen neben Schafen, aufwachen neben Schafen. Der heutige Tag ist schnell erzählt: Regen auf allen Wegen. Von der Coastal Route biegt die Torr Head Scenic Route rechts ab. Klingt atemberaubend, ist auch so, einzig die Steigungen verhindern ein Rad fahren. Die Plagen werden durch Panoramablicke entschädigt – grüne Hügellandschaften, steile Klippen, endloses Meer. Nach einem mehr als einstündigen Wandertag mit Rad geht es unglaubliche sechs Kilometer bergab nach Ballycastle. Wie fast jede geballte Häuseransammlung hat auch Ballycastle seinen Golfplatz, Menschen mit Trolleys queren die Bundesstraße von einer Wiese zur anderen Wiese. Eine Etappe weiter lockt der Giant’s Causeway, nur die Umstellung von gemäßigtem Landregen auf sintflutartiges Unwetter verhindert den Ausflug zu den Klippen. Ein Zimmer ist nicht in Sicht, denn in Portrush findet gerade das Golf-Open statt, sogar Tiger Woods ist mit von der Partie, und die Zimmerpreise klettern auf über 200 Pfund.
Irgendwann kippt der Schalter, und die Sonne gibt ein spätes Gastspiel. Glück im Unglück, der Starkregen hat alle Besucher_innen weggespült. Eingeweicht, aber mit dem Tag versöhnt findet sich ein geeigneter Zeltplatz mit Tisch und Bank für die Campingküche. Eine letzte, hartnäckige Spaziergängerin bringt es auf den Punkt: «What a wonderful evening, isn’t it!»

Nordirland/Londonderry/Derry. Derry, die Stadt am Foyle River, wird aufgrund der begehbaren und bestens rausgeputzten Stadtmauer auch The Walled City genannt. Einmal die eineinhalb Kilometer im Kreis gelaufen und Derry, das im Nordirlandkonflikt eine zentrale Rolle spielt, ist überblickt. Unvergessen: Am 30. Jänner 1972 wurden bei einer friedlichen Bürgerrechtsdemo 13 Menschen von britischen Soldaten erschossen! Im republikanischen Bogside-Viertel auf der Rossville Street befindet sich der Free Derry Corner. Wandmalereien, ein Museum und die zum Symbol des Widerstands gewordene Hausfassade – «You are now entering Free Derry» – erinnern an den Bloody Sunday.
Im Peadar O’Donnell’s gibt es jeden Abend irische Livemusik, auch alle Tourist_innen wissen das. Das Lokal ist bummvoll, viel Bier, viele Selfies, viel Folklore, eine tapfere und gleichfalls wunderbare Band. Im The Bogside Inn hingegen ist gerade einmal die Theke spärlich besetzt. Von den Deckenstreben mahnt ein Bobby-Sands-Sager: «Our revenge will be the laughter of our children!»

Republik Irland/Wild Atlantic Way. Von Derry führt ein Radweg entlang des River Foyle raus aus der Stadt und mündet in eine Nebenstraße. Das Ziel ist der Wild-Atlantic-Way an der Westküste. Der Grenzübertritt von Nordirland in die Republik Irland ist nicht wahrnehmbar, keine Tafeln, keine Flaggen, keine Markierungen, einfach nix. Einziger Unterschied, die Entfernungsangaben sind nicht mehr in Miles, sondern in Kilometern angeschrieben und alle Wegbeschreibungen sind zweisprachig ausgeschildert, in Englisch und in Irisch-Gälisch.
Die idyllische Landstraße führt durch hügeliges Grünland. Saftige eingezäunte Wiesen, so weit das Auge reicht und Schafe, Schafe, Schafe. Ab Donegal wartet auf verschlungenen Wegen der Wild-Atlantic-Way.

Der Downpatrick Head mit seinem gigantischen Brandungspfeiler ist der erste Kick des Tages. Zu Fuß geht es über eine Grasbuckelpiste zum Klippenrand mit Postkartenblick. Ab Ballycastle verändert sich die Landschaft, die Gegend wird rauer. Es verschwinden die Häuser, es verschwinden die Automobile und es verschwinden auch teilweise die Zäune – die Schafe haben Freigang! Heutige Endstation ist der Benwee Head, ein einsamer Zipfel am Ende der Insel. Klippen und grüne Hügel, so weit das Auge reicht. Am Weg dorthin wenige verstreute Häuser, eine einsame Einkaufsmöglichkeit und ein versteckter Pub.

Am angedachten Schlafplatz beim Kildavnet Castle grasen die Schafe. Schafe sind in Irland heilig und dürfen alles, innerhalb und außerhalb der Zäune. Schafe vor der Burg-
ruine, Schafe am Friedhof, Schafe auf der Straße … Mein Platzerl ganz in der Nähe muss erst vom Mist der Mistviecher befreit werden. Unser Verhältnis ist im Moment etwas gestört!

Sonne und Regen in der Dauerschleife, Regenbogen am laufenden Band, bis in Folge die Regenwolken das Schauspiel gegen die Sonne für sich entscheiden. Trotzdem, die Strecke ist an Schönheit und Vielfalt nicht zu überbieten. Der Übergang der Provinz Connacht in die Region Connemara hat alles zu bieten: Almlandschaften zu ebener Erde, Bergwelten rundherum, raue Täler, tiefliegende Seen, verwunschene Wälder, Moorgebiete, unzählige Wasserfälle … Am späteren Nachmittag klärt sich der Himmel. Eigentlich wäre es ein Katzensprung nach Clifden, der inoffiziellen Hauptstadt von Connemara, nur der Wild Atlantic Way fährt jeden Winkel der Insel aus und hat darüber hinaus immer Überraschungen auf Lager. Drei Kilometer vor Clifden empfiehlt er einen Abstecher auf den Sky Road Loop. Aus drei Kilometern werden 15, rauf in die Höhe, rauf in den Himmel! Ausschnaufen in Clifden und noch ein Stück weiter nach Ballyconneely, das Haus steht diesmal am White Strand, Atlantik-Blick inklusive.

Republik Irland/Dublin. Dublin ist ein einziger Ameisenhaufen, und das fix gebuchte Bett ist bereits belegt. Das Ersatzquartier liegt in einem Außenbezirk, frei von Tourist_
innen, dafür überfüllt von Menschen in blau-gelben sowie violett-goldenen Trikots. Grund dafür ist das All-Irland-Hurling-Semifinale zwischen Wexford und Tipperary. Crazy Hurling! Ein irischer Nationalsport: Zwei Mannschaften zu je 15 Spielern, alle tragen Sturzhelm und versuchen, einen kleinen Ball mit einem Holzschläger ins gegnerische Tor zu befördern. Es geht ordentlich zur Sache. Im Pub, wo das Spiel übertragen wird, ebenso. Die Blau-Gelben von Tipperary sind bereits bedenklich übererfrischt. Notiz am Rande: Tipperary entscheidet das Match in der Nachspielzeit für sich.

Die Innenstadt von Dublin wirkt wie ein einziger, großer Pub. In Temple Bar, dem Vergnügungsviertel der Stadt, gibt es Livemusik schon zum Mittagstisch. Es gibt ein Irish-Rock-’n’-Roll-Museum und eine Wall of Fame der irischen Rock-Elite. In den Straßen von Dublin hat schon der kleine Bono Vox (U2) den Rock’n’Roll gelernt, bevor er Weltstar wurde und sich zum Jesus der Rockmusik hochspielte. Anderen Kolleg_innen aus Dublin ist der Rock-’n’-Roll-Lifestyle weniger gut bekommen: Phil Lynott (1949–86, Thin Lizzy) hat es mit den Rauschmittel übertrieben und starb mit 47 Jahren, heute steht er als beliebtes Selfiemotiv auf einem Sockel in der Harry Street. Sinéad O’Connor kämpft immer wieder mit ihren Dämonen im Kopf. Gitarrengott Rory Gallagher (1948–95) hat bei vollem Bewusstsein Bands wie Cream, den Rolling Stones oder Deep Purple einen Korb gegeben, als diese ihm einen Gitarristenjob in Aussicht stellten.
Bob Geldof (Boomtown Rats) wurde von der Queen zum Ritter geschlagen, darf den Titel «Sir» aber nicht tragen, da er Staatsbürger der Republik Irland ist. Den wenigsten wird der Name Luke Kelly (1940–94) geläufig sein, der irische Sänger und Banjospieler war Mitbegründer der Irish-Folk-Gruppe The Dubliners.
Der letzte Abend endet im Lieblingspub The Auld Triangle an der Dorset Lower Ecke Gardiner Upper. Apropos, der oder das Pub? Beides richtig, Hauptsache ein Pub: «Don’t rush, take your Guinness time» – Cheers!

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