Häuser zum Durchfahrenvorstadt

1080 Wien: Wiens älteste Hochgarage, die Astoria Garage, mit Unterführung (Foto: © Chris Haderer)

Durch viele Wiener Gemeindebauten führen Hausdurchfahrten. Sie tragen den «Atem der Straße» direkt ins Wohnzimmer. Ein Rundgang mit dem russischen Futuristen Velimir Chlebnikov.

Häuser sind Lebensräume, Häuserblöcke sind Welten, komprimiert auf einen begrenzten Mikrokosmos – Innenhöfe, Parks und Gärten eingeschlossen. Ins Innere dieser Stadtdörfer führen Zufahrten, einfache Durchgänge für Fußgänger:innen und gelegentlich auch Autostraßen. Hausdurchgänge und «Durchhäuser», die durch mehrere Innenhöfe führen, gibt es hunderte in Wien. Hausdurchfahrten, durch die Straßen führen, sind eher seltener; meistens durchlöchern sie Gemeindebauten, wachsen in manchen Entwicklungsstadtteilen, etwa dem Nordwestbahnviertel, aber gehören bereits zur architektonischen Grundausstattung. Zu den bekanntesten Hausdurchfahrten gehören wahrscheinlich die Hofburg, der Rabenhof und die Alte Universität bei der Bäckerstraße; weniger bekannte gibt es unzählige in Wien, manche schlicht, manche mit dem zeitlosen Charme eines Architekturdenkmals. Ihr Wesensmal ist, dass sie die Konstruktion des Hauses ein wenig ad absurdum führen: Sie durchbrechen den gegossenen Stein der Wohnräume mit einem Loch, durch das der Verkehr fließt. Den roten Ikonenbau Karl-Marx-Hof, mit über einem Kilometer Länge eines der größten Gemeindebauwerke Europas, queren vier Straßen mit Hausdurchfahrten unter Wohnungen hindurch.

Verkehrsanpassung

Hausdurchfahrten sind der Mobilität geschuldet, der Himmel darüber wird als Wohnfläche nutzbar, es entstehen Wohnkomplexe. Auch Straßenbahnen unterqueren gelegentlich die Wohnzimmer: Im 18. Bezirk dreht beispielsweise die Straßenbahnlinie 42 unter dem Pfannenstielhof, eine Anlage mit 178 Wohnungen und einem kupfernen Fries von Angela Stadtherr, ihre Umkehrschleife. In Grinzing unterquert die Linie 38 einen altehrwürdigen Bau, an dem sich auch ein Briefkasten befindet und unter dem Bogen ein «Kleines Café» mit Stehtischen, als Kontrast zur Heurigengegend. Während Häuser seit den 1950er-Jahren nicht mehr durch Kellergänge verbunden sein dürfen, erschließen die Überführungen ungenutzten Platz und füllen ihn mit Wohnungen oder Geschäftsräumen. Im achten Bezirk untergequert etwa die Trautsongasse das schönbrunngelbe Gebäude der Astoria Garage, die älteste Hochgarage Wiens – mit der fast genauso aussehenden Geschwisterdurchfahrt Traunsches Haus im dritten Bezirk mündet die ­Traungasse in die Salesianergasse. Dort wird einer der Bögen als Gastgarten für ein Lokal genutzt.

Dörfer in der Stadt

Im 20. Bezirk erstreckt sich der Winarskyhof über zwei Häuserblocks und wäre ohne eine Durchfahrt zur Leystraße nur schwer erreichbar. Der Winarskyhof wurde zwischen 1924 und 1926 errichtet, wie viele andere seiner Artgenossen auch, beispielsweise der Matteottihof in Margareten (nach dem Mussolini-Gegner Giacomo Matteotti benannt). Die Durchfahrt zur Fendigasse erinnert an ein Stadttor – wobei man bei 452 Wohnungen durchaus von einem Dorf sprechen kann. Ursprünglich war der Hof auch mit einer Wäscherei oder einer Badeanstalt ausgestattet, die allerdings der Zeit gewichen sind. Ein Stück weiter, im etwas später, nämlich in den 1950er-Jahren, erbauten Eduard-Leisching-Hof, sind es immerhin fast 180 Wohnungen, die sich auf zwei Trakte aufteilen, welche zweimal die Gießaufgasse überführen. Eine Seite ist motorisiert erreichbar, die andere führt über eine Treppenkonstruktion zur etwas tiefer liegenden Johannagasse. Fast schon eine Gemeinde ist der zwischen 10. und 12. Bezirk mäandernde George-Washington-Hof mit 1.007 Wohnungen. Er sieht auch so aus: Fünf aneinandergrenzende Höfe werden von zwei Straßen durchfahren. Im dritten Bezirk thront der ebenfalls in den 1950er-Jahren errichtete Kurt-Steyrer-Hof mit 71 Wohnungen wuchtig über der Neulinggasse, die ein Stück später zaghaft in die Landstraßer Hauptstraße mündet.

Häuser-Brücken

Eine Durchfahrt kann sich anfühlen wie eine Brücke. Der 1922 verstorbene russische Futurist Velimir Chlebnikov dachte bereits vor mehr als 100 Jahren an zukünftige «Häuser-Brücken», die er über Flüssen errichten wollte, wie es zum Teil mit U-Bahnstationen geschieht, deren Aufbauten fast nahtlos in umgebende Wohntürme übergehen. Bei Chlebnikovs Art von Häusern «waren sowohl Brückenbögen wie Stützpfeiler von Wohngebilden besiedelt. Als Brückenteile dienten aus Glas und Eisen bestehende Scheiben, die gleichzeitig die Trennwände zu den Nachbarn bildeten.» Chlebnikov nannte die aus Turm-Pfeilern und halbkreisförmigen Bögen bestehende Konstruktionen «Strabrücken», aus den Worten Straße, Strand, Strahl, Strauch und Stratosphäre. Eine Hausdurchfahrt lässt sich damit vergleichen: Ein Weg durch den Stein, der die Platznot reduziert, weil die Luft zum Lebensraum wird. «Die Stadt hatte sich in ein Netz aus zahlreichen, sich kreuzenden Brücken verwandelt, die bewohnte Bögen zu den Stützpfeilern der Wohntürme spannten; […].»

Verdichtete Gegend

Häuser solle man aus Stahlkonstruktionen entwerfen, in die kleine Glashäuschen eingesetzt werden können: Eine an jeder Stelle beliebig durchbrechbare Stadt, die sich dem Verkehr anpasst und Löcher durch ihr Inneres bohrt. Letzterem kommt das Technikum Wien am Höchstädtplatz schon recht nahe: ein Stelzenbau, unter dem sich der Verkehr dreht. Ein futuristisches Gebäude, das sich dem «Herzschlag der Straße» angepasst und so aufgestellt hat, dass es nicht im Weg ist. Gleich daneben stehen noch das Globushaus, das einmal der Sitz der KPÖ war und jetzt zur Wohnanlage umgebaut wird, sowie das Marsyas-II-Denkmal von Alfred Hrdlicka. Meistens war die Straße schon vor dem Haus da und auch nicht wegzudenken, ihr mehrstöckiger Überbau verdichtet die Gegend und verwischt von oben gesehen den Unterschied zwischen Haus und Straße. Beim Rudolf-Sigmund-Hof im 18. Bezirk wurde beispielsweise die Hockegasse überbaut, um zwei Parzellen zu einer größeren Anlage mit 273 Wohnungen zusammenzufassen. In Stadtentwicklungsgebieten führen am Reißbrett geplante Straßen durch am Reißbrett geplante Häuser. Über dem Verkehr liegen veritable Wohnflächen – bei den Durchfahrten in der Schweidlgasse und der Rabensburger Straße im 2. Bezirk immerhin sechs Stockwerke. Mit 227 Wohnungen ein mächtiger Komplex, durch den mehrere Durchfahrten führen, ist auch der Professor-Jodl-Hof in Döbling, der 1925/26 im Rahmen des neuen Bauprogramms des «Roten Wiens» entstand.

Namenlose Straßen

Die App what3words teilt die Welt in drei mal drei Meter große Quadrate und ordnet jedem Quadrat eine merkbare Wortkombination zu. Sie ist leichter zu kommunizieren als GPS-Koordinaten und wird daher auch von einigen internationalen Rettungsdiensten verwendet. In der Welt von what3words hat der Karl-Marx-Hof die Adresse: «abgesagt.fächer.studenten». Das AKH positioniert sich lyrisch als «untätig.dankte.beliebig», der Villacher Hauptbahnhof bringt es auf «ablenken.liest.gelage». Die Kombinationen entbehren nicht einer ungewollten Poesie. Ein Gedicht von Chlebnikov liest sich oft ähnlich: «Zittricht / Wacherei / Klugnis». Er selbst hat nie eine Zeile veröffentlicht, das taten seine Freunde für ihn. «Von den hundert, die ihn gelesen haben, nannten ihn fünfzig einfach einen Graphomanen, vierzig haben ihn als Unterhaltung gelesen und sich gewundert, weshalb sie von all dem keine Unterhaltung hatten, und nur zehn kannten und liebten diesen Kolumbus neuer poetischer Kontinente, die jetzt von uns besiedelt und urbar gemacht werden», schrieb sein Zeitgenosse Vladimir ­Majakovski nach seinem Tod. Das hinterlassene Werk ist ebenso beachtlich wie unbekannt, obwohl sich unter den Übersetzer:innen Namen wie H. C. ­Artmann, Paul Celan, Hans ­Magnus Enzensberger, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker oder Gerhard Rühm finden. Als Futurist inspirierte Chlebnikov nicht zuletzt die «Wiener Gruppe». Seine Texte sind verwoben, manchmal zerstückelt, verfolgen aber die Idee einer Art bedingungslosen Poesie. Seine Themen reichen bis zur Gestaltung der Welt und der «scheinbar schönen Städte von heute», die sich «aus einiger Entfernung gesehen» in Mülleimer verwandeln, so Chlebnikov. «Auf eine Stadt blickt man heute von der Seite, in Zukunft – von oben. Das Dach wird die Hauptsache sein, eine stehende Achse. Mit den Strömen der Flieger und dem Gesicht der Straße über sich, wird die Stadt um ihre Dächer zu eifern beginnen statt um ihre Mauern.»

Draht-Konstruktionen

Chlebnikovs Entwurf einer Stadt beschäftigt sich kritisch mit der üblichen Planung von Häusern: «Ein Plan ist ausschließlich für Häuser aus Draht geeignet, denn anstelle eines Strichs einen leeren Raum und anstelle eines leeren Raums einen Stein zu setzen», empfindet Chlebnikov als Verballhornung der Konstruktion. «Man vergewaltigt die äußere Hülle mit einem Wirrwarr aus Fenstern, mit den Kinkerlitzchen von Wasserleitungen, platten Dummheiten von Schnörkeln und anderen Ungereimtheiten, weshalb die meisten gut gebauten Häuser im Wald zu finden sind.» Dort «fehlt der Herzschlag der Straßen. Ineinanderfließende Straßen lassen sich ebenso schwer betrachten, wie Wörter ohne Absatz sich schwer lesen, Wörter ohne Betonung sich schwer aussprechen lassen», meint Chlebnikov. «Eine Straße muss von Betonungen auf der Höhe eines Hauses, von den Schwingungen im Atem des Steins durchbrochen sein.» In der Architektur von Sonnwend- und Nordwestbahnviertel, sowie der Seestadt, spiegelt sich noch einmal Chlebnikov, wie er die Entstehung von Häusern umreißt: «Man nehme ein Loch und gieße einen Mantel aus Gusseisen darum. Und ebenso wird ein Plan genommen und mit Stein ausgefüllt. Aber eine Zeichnung besitzt eine bestimmte Schwere – ein Zug, der einem Gebäude fehlt, während umgekehrt die Schwere von Gebäudemauern in einer Zeichnung fehlt, als leerer Raum erscheint; dem Leben eines Plans entspricht das Un-Leben eines Gebäudes und umgekehrt.» Wo wir auf Plänen leere Flächen sehen, sind in Wahrheit Mauern, die von Straßen durchbrochen sind und die bisweilen poetisch bedacht werden; wie das Wiener Rathaus: «wille.flasche.vermuten».

Die Zitate stammen aus:
Velimir Chlebnikov Gesamtausgabe
Herausgegeben von Peter Urban
Suhrkamp Verlag 2022