Ilse Aichinger zum GrußDichter Innenteil

Die Summen bleiben immer gleich (Foto: Mario Lang)

Herr Groll auf Reisen, 404. Folge

«Die große Schriftstellerin Ilse Aichinger überlebte die Nazizeit nur mit viel Glück und unter ständigen Todesängsten. Die Tochter einer sozialdemokratischen Ärztin jüdischer Herkunft überlebte als jahrelange Gefangene im Auge des Sturms: in einer kleinen Wohnung in einem winzigen Zimmer. Unmittelbar gegenüber, auf der anderen Straßenseite befand sich das Hotel Métropole am Morzinplatz», erklärte der Dozent, als er mit Freund Groll die Gonzagagasse Richtung Donaukanal entlang kam.

«Das Metropol war das Gestapo-Hauptquartier», stimmte Groll bei. «Unzählige jüdische und nichtjüdische Regimegegner wurden hier gefoltert und ermordet. Unter den Menschenfreunden befanden sich überproportional viele Österreicher. Braune Wiener waren bei Folter und Ermordung an vorderster Stelle. Nur wenige wurden nach dem Krieg für ihre Schandtaten zur Verantwortung gezogen. Die meisten wechselten in die Polizei und den Geheimdienst und behielten Rang und ‹arisierte› Gemeindewohnung.»

«Dass Ilse Aichinger eben hier als ‹U-Boot› überlebte, ist eine bizarre Volte des Schicksals», fuhr der Dozent fort.

Groll schüttelte erbost den Kopf. Seit Jahrzehnten höre er den Ausdruck ‹U-Boot› für Regimegegner, die die Naziherrschaft jahrelang in Dachkammern, Kellern oder Schrebergartenverschlägen überlebt hatten, und seit Jahrzehnten ärgere er sich über diese Bezeichnung. «Die Bezeichnung ‹U-Boot› ist verharmlosend und irreführend. Denn im Gegensatz zu einem mobilen U-Boot wurden die Versteckten bei Strafe ihres Todes zur Immobilität gezwungen. Jede Ortsveränderung bedeutete unmittelbare Lebensgefahr. Gar nicht zu reden von den vielen Wiener Nachbarn, die aus der Denunziation jüdischer Mitbürger einen Volkssport machten und das in der begründeten Hoffnung, einer Wohnung, einer Beförderung oder einer anderweitigen Gefälligkeit von Seiten der Behörden durch den Akt des Verrats näherzurücken. U-Boote sind ein Synonym für todbringende Überfälle auf Handelsschiffe und Passagierdampfer, tausende Nicht-Kriegsschiffe der Alliierten wurden von den Mördern aus der Tiefe der Ozeane versenkt, zigtausende Menschen fielen den Torpedos der ‹Wolfsrudel› – so nannte Großadmiral Dönitz seine U-Boot-Gruppen –, zum Opfer. Die um ihr Leben Zitternden mit dem Namen von todbringenden Vernichtungswaffen zu belegen, zeugt von Niedertracht und Blödheit.»

«Oder beidem», schloss der Dozent.

Sie näherten sich dem Schwedenplatz. Der Dozent nahm das Gespräch wieder auf. «In einem Interview mit Günther Kaindlstorfer bekannte Ilse Aichinger, dass sie am Tag des Einmarsches der Hitler-Truppen keine Angst, wohl aber einen ‹gewaltigen Zorn› verspürt habe. ‹Endlich schrien die Wiener  ihren Hass aus sich heraus› und sie habe sich gedacht: ‹Ich wollte doch immer, daß alles deutlich wird. Jetzt ist es endlich deutlich .. Da herrscht ein Jubel, unbeschreiblich … Jetzt gibt es kein Österreich mehr. Das Land, in dem ich zu Hause bin, dieses Land gibt es nicht mehr. … Ich gehe durch dieselben Straßen wie gestern, ich wohne noch in derselben Wohnung wie gestern, aber es ist nicht mehr mein Land …›»

«Im Krieg ist endlich alles deutlich geworden. Man konnte sich über die Wahrheit nicht mehr hinwegtäuschen. Alles war klar, es gab keinen Zweifel, keinen Selbstzweifel mehr. Ich wollte … Genauigkeit. Wie auch später beim Schreiben. Schon als Kind wollte ich Genauigkeit und Präzision. Und die hatte ich nun: die Präzision des Mordens, des Ermordetwerdens, das Offensichtlichwerden der Brutalität, das empfand ich als erleichternd. Es gibt ja immer Gewalt und Brutalität auf dieser Welt, nicht nur im Krieg, ich glaube, dass die Summe der Brutalität immer gleich bleibt, ebenso wie die Summe an Barmherzigkeit und Großmut. Das Eine – die Gewalt – bleibt immer gleich groß. Das Andere bleibt immer gleich klein.›»

Nachdem sie eine Weile schweigend vor dem Denkmal auf dem Morzinplatz verweilt hatten, fragte der Dozent seinen Freund, ob er ihn auf eine Pusztawurst einladen dürfe. Danke nein, antwortete Groll. Aber gegen einen doppelten Slivowitz habe er nichts einzuwenden.