Boulevard-Blog vom 7.12.2022
Wie Uni-Besetzer:innen für eine soziale und klimagerechte Zukunft kämpfen und es selber besser machen.
Es ist ein nebliger Nachmittag am Campus der Universtät Wien. Die Standln am Weihnachtsmarkt öffnen nach und nach ihre Luken, die letzten benutzten Servietten vom Vortag werden weggekehrt, ein Radiosender fragt Passant:innen nach ihrem liebsten Weihnachtshit. Räder werden abgesperrt, Hunde Gassi geführt, Studierende und Lehrende machen sich auf zu ihren nächsten Vorlesungen. So weit so gut, alles wie gewohnt. Doch der Banner, der im Hof 2 hinter der Franz-Josephs Statue im Wind flattert, macht deutlich, dass hier doch etwas ganz anders ist als sonst: Die Uni ist besetzt.
21 Tage und Nächte haben die Protestierenden bereits im Hörsaal C1 verbracht. Ihre Forderungen wurden von der Politik bisher kaum gehört. Mit der Hochschule selbst laufen zwar Gespräche, doch: «Je länger der Protest dauert, umso näher rückt die Räumung.», sagt die 22-jährige Amina Guggenbichler, Sprecherin des Protests am Campus, als sie im Schneidersitz Fragen beantwortet. Im besetzen Hörsaal läuft derweil ein Vortrag, im Foyer wird leidenschaftlich debattiert und fleißig gekocht. Rund einhundert Menschen sind tagsüber anwesend. 30 bis 50 Personen bleiben auch über Nacht. Unterstützung kommt auch von den Lehrenden: 335 von ihnen haben bereits eine Unterstützungserklärung der Proteste unterschrieben. Neben der Hauptuni wurden mittlerweile auch Säle der Boku und der Angewandten eingenommen, auch in Innsbruck und Salzburg gibt es Besetzungen.
«Erde brennt» ist Teil der weltweiten «End Fossil» Bewegung. Die Forderung lautet: Raus aus fossilen Energieträgern – für einen Ausbau erneuerbarer Energieformen. Weil andere Protestformen wie Streiks und Proteste auf der Straße bisher nichts gebracht haben, müsse man zu drastischeren Mitteln greifen. Kritik daran kommt auch aus den eigenen Reihen. Manche Studierende und Lehrende beklagen, die Besetzung würde nur den Lehrbetrieb stören und die Entscheidungsträger:innen kalt lassen. Amina Guggenbichler hält dagegen: «Der Punkt, warum wir Hörsäle besetzen, ist, um auf uns aufmerksam zu machen, um Gehör zu bekommen, weil wir hier täglich sind und auch hier mit diesen Krisen konfrontiert werden. Die Uni ist unser tägliches Handlungsfeld. Wir sind nicht mehr in der Schule, und wir sind auch nicht primär Arbeitende. Wir sind Tag für Tag in dieser Institution und gefangen in deren Regeln und Strukturen – und diese brechen wir hier auf. Wenn es zu einer Räumung kommt, geht der Protest dennoch weiter. Und irgendwann wird uns auch die Politik nicht mehr ignorieren können.»
Auch soziale Gerechtigkeit und eine Reform der Bildungspolitik werden gefordert. Diese Themen seien eng mit der Klimakrise vernetzt. Mit einem alternativen Bildungsprogramm nehmen die Besetzer:innen die Umsetzung ihrer Ziele selbst in die Hand. «Wir wollen mehr Inklusion und Diversität an der Hochschule. Bei uns sollen alle ihren Platz haben. Dafür nutzen wir diesen Raum.», sagt Guggenbichler. So gab es unter anderem schon Vorträge vom feministischen Kollektiv Rosa Österreich, ein Planspiel zum Thema Finanzmärkte, eine Vorlesung über den Kolonialismus sowie eine Drag-Queen und -King-Show. Bildungspolitisch werden neben mehr Budget auch mehr Einbindung der Studierenden in die Erstellung der Lehrpläne gefordert. Die einzigen regulären Vorlesungen, die aktuell noch im Hörsaal C1 stattfinden, sind «Umwelt, Risiko und Gesellschaft» sowie «Climate Change and Climate Crisis». «Wir versuchen, es selber besser zu machen.», sagt Guggenbichler, die in den letzten Wochen zum Gesicht des Wiener Protests wurde. Die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit spiegle sie mit ihrer Person selbst wider. «Vor diesem Protest war ich noch nicht großartig politisch aktiv. Ich bin in keinem akademischen Haushalt aufgewachsen und trotzdem bin ich gerade hier, in dieser Position.» Auch wenn sie in einer Hochschule abgehalten werden, richten sich die «Erde brennt»-Proteste an alle Mitglieder der Gesellschaft, das ist den Organisator:innen besonders wichtig zu erwähnen.
Gemeinschaftlicher Protest findet in den letzten Wochen und Monaten immer häufiger statt. Seien es die Streiks der ÖBB und des Krankenhauspersonals, Demos von Menschen mit Behinderung oder Klimaaktivismus mit Klebe- und Schüttaktionen. Amina Guggenbichler macht aktuell klar: 2009 brannte die Uni, 2022 brennt die ganze Erde. «Wir wollen auf multiple Krisen aufmerksam machen und Lösungsansätze, die bereits seit Jahren am Tisch liegen, kollektiv umsetzen. Nicht mehr und nicht weniger.»
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