Je Stadt, desto liberaltun & lassen

Wer sich auf die Verstädterung verlässt, ist schon verlassen

Gemäß eines nicht nur von Politolog_innen wahrnehmbaren Trends verfestigt sich überall in Europa die Tendenz, dass in den Städten linker gewählt wird als am Land. 

Robert Sommer (Text) bastelt daher an einem Transformationsmodell.

Foto: Anton Tantner

Je toter die Dörfer und je schrumpfender ihre Einwohnerzahlen, desto weniger Schwarzblau oder Blauschwarz. Man sorge also für die Beschleunigung der Urbanisierungsprozesse. Das ist natürlich kein anzustrebendes Szenario. Es ist ein zynischer Entwurf. Wer sich als links fühlt, will, dass das Landleben attraktiv wie das Stadtleben ist, bloß anders attraktiv. Dass Allentsteig wieder eine pulsierende Regionshauptstadt wird. Dass in Litschau nicht die letzten Wirtshäuser schließen. Und dass die Heidenreichsteiner_innen noch unzählige Fischteichfeste feiern, bevor ihre Stadt von Wolfsrudeln und Wildschweinen okkupiert wird.

Das inzwischen durch viele Wahlgänge und durch soziologische/politologische Studien bekräftigte Wissen, dass der Rechtspopulismus in kaum einem europäischen Land Triumphe feiern könnte, wenn sich die Wähler_innen am Land politisch den Städter_innen angleichen würden, ist oft der einzige Trost linker Stammtische und linker Wahlanalysen. Aus Verzweiflung freut man sich über einen vermeintlich verlässlichen Genossen namens «objektiver Urbanisierungsprozess». Weil diese Verstädterungsentwicklung quasi irreversibel sei, sich quasi automatisch fortpflanze, schrumpfe die Basis konservativer und autoritärer Erfolge im nationalen, überregionalen Rahmen. Es ist verlockend, daraus den Schluss zu ziehen, dass unser aktivierendes Zutun für die Wende zum Linkstrend nicht der wichtigste Faktor der Veränderung sei.

Im ersten Teil dieser Abhandlung werden Beispiele des politischen Stadt-Land-Grabens genannt, die Anlässe geben, die Nachhaltigkeit rechtsextremer Wahlerfolge zu bezweifeln. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Staaten gelegt, in denen nationalistische, religiös-fundamentalistische, autoritäre Parteien beziehungsweise deren Führer die Macht ausüben. Mit den Beispielen Österreich und Schweiz werden aber auch Gesellschaften betrachtet, in denen oberflächlich gesehen der Graben zwischen urbaner und ruraler Realität nicht so groß ist, weil zum Beispiel inzwischen ähnliche Bildungschancen garantiert sind, weil eine gegenseitige Pendler_innenbewegung die Menschen durchmischt und weil mittlerweile auch das Land zu säkularisiert ist, als dass die Religion als Bewahrerin alter Werte dominant geblieben wäre. Im zweiten Teil wird nach den Gründen der politischen Polarisierung gefragt: da die linke Stadt, dort das rechte Land. Ein drittes Kapitel bräuchten wir zu den Versuchen, Folgerungen für die in Bewegung Geratenen zu ziehen. Aber dieses dritte Kapitel müssen die Leser_innen selber schreiben …

Die bunten Städte sind schwer umzudrehen.

Polen unter der Führung der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hatte viele Fortschrittliche bereits abgehakt. Doch nach den Kommunalwahlen im Oktober 2018 stellte sich heraus, dass das in der Stadt erreichbare Bildungs-

niveau auslangt, um die Notwendigkeit der Wahl eines PiS-Gegners zu verdeutlichen. Die zehn größten Städte Polens werden nun von der Opposition regiert. Über Nacht hat der Wahlprozess jenen Pol_innen, die für eine Demokratisierung des Landes stehen, zwei potenzielle Aushängefiguren beschert: die Bürgermeisterin von Łódź, Hanna Zdanowska, und den neuen Bürgermeister von Warschau, Rafał Trzaskowski, der für die Ersetzung des aktuellen repressiven Neoliberalismus durch ein bobogerechtes System der Marktwirtschaft steht.

Trzaskowski repräsentiert die bürgerliche Opposition gegen den Regierungschef Mateusz Morawiecki. Der rote und grüne, jedenfalls radikale Widerstand gegen die PiS-Semidiktatur ist noch nicht herangereift, es gibt aber gute Gründe dafür, optimistisch zu sein, zumal Warschau zum Unterschied von Budapest oder Wien über eine Tradition des subkulturellen Ungehorsams verfügt. Die Renaissance dieser Bewegungen in den 1980er-Jahren, verkörpert durch die in der ganzen Welt bewunderte Bewegung Orangene Alternative – Zwerge an die Macht versorgte mit Beispielen avancierter Irritation und Provokation der Mächtigen. Zu den Happenings der Zwerge kamen oft 10.000 Menschen. Das Projekt entging später nicht der Kommerzialisierung und Folklorisierung, immerhin eine zivilisiertere Domestizierung als die Zerschlagung mittels Staatsgewalt, die den Zwergen anderswo geblüht hätte.

Im ebenfalls autoritär regierten Ungarn fanden im April 2018 Parlamentswahlen statt. Es stellte sich heraus, dass auch in Ungarn Großstadt und Land unterschiedlich abstimmen. Zwar erreichte die Orbán-Partei Fidesz auch in Budapest etwa 38 Prozent der Stimmen, doch in anderen Landesteilen waren es zum Teil weit über 50 Prozent, in manchen Wahlkreisen sogar annähernd 60. Jobbik, die Partei des offenen Faschismus, war in Budapest vergleichsweise schwach (je nach Wahlkreis sechs bis 15 Prozent), während sie in ländlich geprägten Wahlkreisen bis zu 30 Prozent und mehr erreichte.

Der Gap zwischen der Welt Erdoğans und der Welt seiner Gegner_innen ist unüberbietbar. Zum Symbol dieses Antagonismus ist Izmir geworden. Der türkische Staatschef kann in der drittgrößten Stadt des Landes aufstellen, wen er will: Hier verlieren seine Leute immer. Die Stadt ist ein Gegenmodell zur Erdoğan-Türkei. Für die einkommensschwachen Gruppen hat das auch negative Auswirkungen: Die Mieten werden für gewöhnliche Menschen unbezahlbar. Aber die Liberalität dieser Stadt bewirkt einen mächtigen Sog. Es gibt eine starke türkische Binnenmigration mit dem Ziel Izmir. Frauen leben in Izmir in einem viel liberaleren Umfeld als im Rest der Türkei.

Für Länder wie Schweiz und Österreich gilt, dass der politische Graben zwischen Stadt und Land «eines der unterschätztesten Phänomene» der Gesellschaften dieser beiden Hälften ist. «Es gibt einen riesigen Stadt-Land-Unterschied», sagt Eva Zeglovits, Chefin von IFES. (Ich höre hier ironisches Begleitrauschen: Darauf wären wir NIE gekommen!) Die SPÖ hat bei den Nationalratswahlen 2017 in Gemeinden mit mehr als 20.000 Wahlberechtigten im Schnitt um 10,8 Prozentpunkte mehr eingefahren als in Gemeinden mit maximal 2500 Wahlberechtigten. Bei der ÖVP ist der Trend umgekehrt. Im Schnitt machte die Volkspartei bei dieser Nationalratswahl in Gemeinden mit maximal 2500 Wahlberechtigten 15,8 Punkte mehr als in Städten mit mehr als 20.000 Wahlberechtigten. Auch die FPÖ kommt im ländlichen Raum besser an; dabei sollte man glauben, dass man in der Stadt Kickls Polizeikavallerie (weil das Ross in Wien exotischer wirkt) ähnlich lieben wird wie die bisherigen urbanen Pferd-Institutionen: die Fiaker, die Lipizzaner, den Pferdefleischhauer und die Pferdewette.

In der Schweiz löste erst 1997 das linke Lager die Bürgerlichen als stärkste Kraft ab. Das Phänomen der links-grünen Majoritäten in den Kommunen ist also vergleichsweise jung. Heute sind sieben der zehn größten Städte der Schweiz in der Hand einer links-grünen Regierung. Fast zeitgleich mit dem Erstarken der Linken in den Städten erlebte die reaktionäre Volkspartei dank breiter Unterstützung auf dem Land ihren nationalen Aufschwung.

Was steckt dahinter?

Nehmen wir an, es ist die Angst. Aus verschiedenen Gründen fühlen sich Landbewohner_innen mehr durch jene Parteien vertreten, die vorgeben, die größte Sensibilität gegenüber den Unsicherheitsgefühlen der Menschen zu zeigen. Zwar haben inzwischen auch die Sozialdemokratie und die Grünen das Thema Sicherheit zum Höhepunkt ihrer Wahlreden befördert, aber den rechten Parteien wird mehr zugetraut, die «steigende Kriminalität» zu bekämpfen. Dass sie steigt, nehmen Boulevard-Journalist_innen so selbstverständlich an, dass sie darauf verzichten, Polizei-

statistiken zu befragen.

Die Dorfbewohner_innen kennen die in den Städten grassierende Unsicherheit selten aus eigener Erfahrung, vielmehr durch die Berichte der Medien. In der historischen Betrachtung stecken hinter der Xenophobie des Dorfes psychologische Realitäten, die dorftypisch sind. Dorfbewohner_innen verkehrten im Alltag hauptsächlich mit bekannten Menschen. Stadtbewohner_innen verkehr(t)en im Alltag hauptsächlich mit Fremden. Die Geschichte reicht in die Gegenwart hinein, auch hier. Die relative Rarität des Fremden generiert Gefühle der Vorsicht, des Misstrauens, der Angst, der Ablehnung. Parteien, die die Plausibilität dieser Gefühle «bestätigen», haben leichtes Spiel. Nicht nur aus ihrer Sicht ist die Ahnung, Todesmärsche der Flüchtlinge, wie aktuell in Mexiko, Richtung USA, würden auch auf den nach Wien führenden Balkanrouten unvermeidbar sein, Wasser auf ihre Mühlen.

Blieben die jüngeren, gebildeteren, mobileren, weltoffenen Menschen im Dorf, sähen die Wahlergebnisse etwas anderes aus; aber gerade dieses Segment der Landbevölkerung zieht vorzugsweise in die großen Städte. Weit und breit werden die Bedingungen, die Abwanderung zu drosseln, schlechter. Wer nach weiteren Gründen für die Hegemonie von reaktionären oder bürgerlichen Kräften am Land sucht, stößt zwangsläufig auf die Rolle der Religion. In seiner bekannten Studie zum Untergang des Dorfes in Europa beschreibt Geert Mak am Beispiel des niederländischen Dorfes Jorwerd, dass die gewichtigere Rolle der Religion im Dorf viel mit der Bevölkerungsstruktur zu tun hat:

«Familien mit einem traditionelleren Lebensstil blieben lieber auf dem Dorf wohnen (…) Dorfbewohner auf der ganzen Welt mochten sich in allen möglichen Details voneinander unterscheiden, für die meisten stand jedoch außer Zweifel, dass es eine universelle Ordnung gab, die ihr Leben rechtfertigte und in die sie eingebunden waren.»

Rezepte für eine Änderung der Kräfteverhältnisse am Land können hier nicht in der gewünschten Dichte aufgelistet werden. Urbanisierte Dörfler- oder Ex-Dörfler_innen haben die Fähigkeit, Rollen zu spielen. Diese Kompetenz konstituiert nach Richard Sennett geradezu die Stadtleute. Rollen spielen ist nichts Negatives; es ist eine Fähigkeit, die sich entwickelt, wenn man es mit lauter Fremden zu tun hat, die noch dazu unterschiedlich fremd sind. Eine wirkliche nachhaltige Kommunikationskultur stellt sich allerdings nur dann ein, wenn sich die Städter_innen oder Neostädter_innen auch aus den Kompetenzen der Leute aus dem Dorf Anregungen für ihr Leben in der Stadt nehmen. Ob sich das mittelbar auf das Wahlverhalten auswirkt, ist eigentlich nicht so wichtig. Wichtiger ist, den von den Eliten gewollten Stadt-Land-Verwerfungen eine Kultur der Solidarität gegenüberzustellen.