Letzte WegeArtistin

Gedenken an Ludwig von der Triester Straße in Sybille Loews Installation «Stiller Abtrag» (Foto: © Michael Bigus)

Vor dem Tod ist niemand gleich und danach schon gar nicht. Ungleichheit wird auch in der Ausstellung «Sterblich sein» thematisiert, die aktuell im Dom Museum zu sehen ist.

«Stiller Abtrag» nennt sich die für die Ausstellung in Auftrag gegebene Installation der Münchner Künstlerin Sybille Loew. So werden in Deutschland Begräbnisse genannt, bei denen es keine Angehörigen gibt oder zumindest keine, die das Begräbnis bezahlen können oder wollen. «Bei uns wird das umgangssprachlich ‹Sozialbegräbnis› genannt, die korrekte Bezeichnung wäre aber wohl ‹sanitätsbehördlich angeordnete Beisetzung›», heißt es auf Anfrage von der Bestattung Wien, die betont, alles pietätvoll zu gestalten. Die Bestattungsmitarbeiter:innen hielten immer eine Gedenkminute ab, selbst wenn niemand den letzten Weg begleite.

Gestickte Erinnerung

Diesen Eindruck hatte Sybille Loew bei ihrer Recherche für ihr Kunstwerk ebenfalls. Sie kritisiert, dass in Berlin «stille Abträge» in rohrpostartigen Urnen auf einer grünen Wiese vollkommen spurlos verschwinden. In München, wo derartige Begräbnisse ähnlich wie in Wien gestaltet werden, sei sie das erste Mal auf das Thema aufmerksam geworden, weil Sterbefälle in Zeitungen auf der Suche nach Angehörigen publiziert werden. Aus den Namen jener 1.500 Menschen, die in Wien im Jahr 2022 in Einsamkeit verstorben sind, hat sie 200 ausgewählt und die Namen der Toten mit roten Fäden auf weiße Tücher gestickt. Diese Fäden in der Lebensfarbe hängen von der Decke, tragen die Tücher, berühren allerdings nicht den Boden, so wie auch die Toten keine Spuren hinterlassen.
Dem Augustin-geschulten Auge fällt in der Installation von Sybille Loew sofort der Eintrag «Ludwig von der Triesterstraße» auf, gestorben am 27. 02. 2022, Identität und Geburtsdatum unbekannt. Viele würden glauben, all diese Toten seien Obdachlose gewesen. «Pustekuchen!», sagt Sybille Loew dazu im ausführlichen Gespräch. «Der Ludwig von der Triester Straße ist die Ausnahme.» Viele der Namen deuten auf Menschen aus der Mitte der Gesellschaft hin, die oft schon vor dem physischen Tod einen sozialen Tod gestorben sind. Eine 36-jährige Frau mit türkischem Namen war bei ihrer Auswahl die Jüngste, eine fast 101-jährige Frau die Älteste, sagt Loew. Dass Menschen vereinsamen, kann viele Gründe haben: Kinder sterben vor ihren Eltern, wohnen in Übersee, oder Familienmitglieder brechen aufgrund von Krisen oder Konflikten ihre Kontakte ab.

Gedenken statt Datenschutz

Besonders berührend findet Sybille Loew das Schicksal von Flüchtlingen. Im Vergleich zu ihrem Projekt in München aus dem Jahr 2005 seien ihr in Wien im Jahr 2022 einige arabische Namen aufgefallen. Die Angehörigen im Ursprungsland erfahren manchmal nie vom Ableben ihrer Familienmitglieder, weil Flüchtlinge oft ihre Dokumente vernichten. «Es ist ja auch so, dass mit dem Tod das Recht auf den Namen erlischt. Somit haben wir auch den Datenschutz nicht verletzt. Im Gegenteil: Das dient ja dazu, jemanden zu würdigen, an den halt niemand mehr denkt», erläutert sie ein interessantes Detail ihrer Recherche. Ein halbes Jahr lang hat sie an den 200 Daten gestickt und dabei viel über die möglichen Schicksale nachgedacht. Dass die Einladung in der Ausstellung, mit einer Nachricht auf einem Zettel selbst persönlicher Verluste zu gedenken, auf so großen Anklang in vielen Sprachen stößt, sodass diese Zettel schon mehrfach umgehängt werden mussten, um weiteren Platz zu schaffen, wundert die Künstlerin nicht.

Kabinett des Todes

Unmittelbar neben Sybille Loews zeitgenössischer Kunst zieht eine barocke Kasel, ein schwarzes Priestergewand, die Blicke auf sich. Darauf tritt ein von Leichtigkeit erfasstes Skelett irdische Machtsymbole wie eine Königskrone oder einen Bischofsstab mit Füßen. «Da sieht man ein Skelett ohne jegliche christliche Symbolik», schwärmt Johanna Schwanberg, die sich für einen Ausstellungsrundgang Zeit nimmt. Die großen Themen findet sie in der Intimität des Dom Museums gut aufgehoben. Die Sammlung des Museums mit sowohl sakraler als auch zeitgenössischer Kunst, eigne sich genau für diese Schau, die die Museumsdirektorin und Kuratorin frei nach Ingeborg Bachmann «für ihr Publikum zumutbar» hält. So könne sie etwa «Leute für die Aktualität einer Pietá sensibilisieren und dort Formen erkennen, die es auch in der Aktualität gibt», ist Schwanberg überzeugt. Und tatsächlich folgen Sam Jinks’ Pietá eines Sohnes mit seinem toten Vater oder Khaled Barakehs Fotos aus dem syrischen Bürgerkrieg, in denen er die Toten herausretuschiert hat, einer christlichen Ikonografie.
Mit über 3.000 Werken ist die Sammlung des Dompredigers und Kunstsammlers Otto Mauer das Herzstück der Sammlung des Dommuseums. Allein über 500 Werke sind dabei von Alfred Kubin. Für Schwanberg zeigt das, wie intensiv sich der Priester mit dem Tod auseinandersetzte. «Das Grauen» oder «Der beste Arzt» von Kubin sind in einem Zeichenkabinett ebenso zu sehen wie Grafiken von Max Beckmann, Lovis Corinth, Otto Dix, Kurt Absolon oder eine aktuelle Serie von Günter Brus. Gerade diese Zeichnungen erzählen viel über die sozialen Aspekte des Sterbens. Otto Mauer wirkt als Kunstförderer über seinen Tod hinaus. Aus dem Otto Mauer Fonds wird alljährlich der Otto Mauer Preis vergeben.
Für die Schau wurden übrigens fünf künstlerische Arbeiten in Auftrag gegeben und weitere für die Sammlung angekauft.

Bilder der Toten

Wem vor lauter männlichen Namen im letzten Absatz schwindlig geworden ist, sei beruhigt: Mit Renate Bertlmann, Maria Lassnig, dem bolivianischen Kollektiv Mujeres Creando sind starke feministische und queere Positionen vertreten. Teresa Margolles’ aktuelle Arbeit «KAPUTT» erinnert an die Femizide in Mexiko. Mit Olia Fedorovas «Tablets of Rage» oder Dan Perjovschis sich stetig erweiternden «War Reports» werden tagesaktuelle Orte des Sterbens wie der Ukraine-Krieg oder die Kriege im Nahen Osten nicht ausgespart. Bis auf Beate Lakottas höchst ästhetische Schwarz-Weiß-Portraits von lebenden und gestorbenen Menschen zum Thema Hospiz kommt die Ausstellung komplett ohne Fotografien von Leichen aus. Und gerade das macht sie so bewegend.

Sterblich sein
Dom Museum, 1., Stephansplatz 6
bis 25. August
https://dommuseum.at