Liberty Calls!Artistin

Musikarbeiter unterwegs … ins Innehalten

Wie die neue EP «Trans Agenda Dynastie» von Kerosin95 beim Loslassen hilft.

TEXT: RAINER KRISPEL
FOTO: MARIO LANG

«Im Grunde sind das lauter Gemeinheiten», sagt Heimito von Doderers Amtsrat Zihal. Es ist Record Store Day, als ich am Rechner sitze, um dies zu schreiben. 2008 als Sichtbarmachung credibiler Plattenläden und Feiertag für Musik-/Vinylnerds gestartet, brauchte der gute alte Kapitalismus keine 14 Jahre, um die ­Sache zu pervertieren. Und uns die Erkenntnis einzuhämmern, dass Fetischismus – Vinyl ist nur Plastik! – am besten von einverstandenen Erwachsenen auszuleben ist. Wie zum Teufel wären sonst die anlassbezogenen Neuauflagen eines Mariah Carey-Tonträgers und ähnlichen Mainstream-Schunds zu rechtfertigen? Andererseits machen die Wiener Plattenläden des Vertrauens – Recordbag, Rave Up, Substance, Schallter, Galea … – gute, notwendige Umsätze. Noch einmal andererseits habe ich «My Beauty» von ­Kevin Rowland jetzt endlich auf Vinyl (sic!).

Meine Schönheit.

«My Beauty» hat Kevin Rowland, dessen Musik ich verehre, nicht nur, weil wir gespiegelte Namensinitialen teilen, 1999 veröffentlicht. Das zweite Solowerk nach Auflösung der Dexys Midnight Runners. Ein mir damals unverständliches, nun längst heiß geliebtes Album mit in großem Gestus arrangierten Adaptionen ausgewählter Lieder anderer, wunderbar gesungen. Am Cover Rowland in halterlosen Strümpfen, mit lackierten Fingernägeln, heruntergezogenes Kleid, der Blick frei auf die rasierte Brust, Perlenkette, Lippenstift … Mehr hat Rowland im UK des ausgelaufenen Britpop und dessen chauvinistisch/nationalistischer Lad/Kumpel/Burschen-(Un-)Kultur nicht gebraucht. Die Äußerlichkeiten samt Frage nach seinem Geisteszustand überdeckten die Musik, feindselige Reaktionen bei Auftritten in nämlichem Outfit. 2020 wiederveröffentlicht wurde «My Beauty» als Meisterwerk willkommen geheißen. Wie auch das Video zum Song Rag Doll, mit Rowlands Enkel Roo. Der Sänger zum Guardian: «I’m so proud of him. He’s been wearing dresses and make­up since he was 13.»

Cut out the middlehuman.

Im September 2021 war ich mit Sohn beim Open-Air-Konzert der Antilopengang auf dem Gelände des Alten Schlachthofs Wels. Den musikalischen Support lieferte Kerosin95 – ein ganz phantastischer Gig, inhaltlich und formell großartig. Das Vinyl «Volume 1» kam als nachhaltiges Souvenir mit. Sag mir, was das soll mit dieser ignoranten Scheiße / Du nimmst mich nicht ernst, ja / Du weißt nicht, was ich meine / Glaubst, du bist so woke, Junge, geh mal zur Seite / Hör mal bitte auf mit deinen lamen (sic!) Vergleichen verbalisiert Kem in Meine Welt. Am Freitag vor dem ­Record Store Day veröffentlicht Kerosin95 mit «Trans Agenda Dynastie» eine neue EP, produziert von MNPHB. Ein von mir zuerst angefragtes Interview mit Kerosin cancele ich, nachdem ich ein Merkblatt zu genderneutraler Sprache bekomme, zugleich den Hinweis «nicht zu viele Fragen zum Thema Gender, Non-Binary, Transsein etc.» zu stellen. Ich verstehe den Versuch von Kerosin95, den – alles andere als – «safe space» medialer Öffentlichkeit im Sinne von Inklusivität vorzubereiten. Anderseits müssten sich das Produkt Kerosin95 und dessen Struktur die Frage gefallen lassen, ob denn Journalismus nur als und zur Propaganda der eigenen Sache gilt. Gerade, wenn es um etwas geht, was für Kerosin95 100 Prozent der Fall ist – der geile Titeltrack sei «der Stinkefinger, der sich Richtung cis-Männlichkeit und TERFs empor hebt» – bin ich so sozialisiert (Crass, Fugazi, Leben), dann nur möglichst unmittelbare Kommunikation und Strukturen ernstzunehmen. Das schreibe ich in bewusster Widersprüchlichkeit als Fan der bei Sony verlegten Clash. Von der Frage ganz abgesehen, ob nicht jede noch so drängende identitätspolitische Thematik am ewig gleichen sie verschluckenden Dilemma Kapitalismus verendet. Was wohl Naomi Klein damit meinte: «Wir waren so sehr damit beschäftigt, die Projektionen auf der Wand zu analysieren, dass wir nicht merkten, wie die Wand selbst verkauft wurde.» Ich höre mit ästhetischem Genuss Bullshit Bingo 1.0, einen weiteren EP-Track, denke zugleich – es muss und kann nicht alles für alle sein. Das hat mit nichts etwas zu tun, was mich tatsächlich betrifft, keine wirkliche emotio­nale Resonanz, über eine abstrakte, gewollte Solidarität hinaus. Was andererseits gleichgültig ist – was Kerosin95 musikalisch sagt und tut, ist völlig unbeleckt davon wichtig und gut. Für die Menschen zu und von ­denen es spricht.

Live: 22. Mai
WUK