Der Klimacheck ist abgeschlossen, der Lobau-Tunnel gekippt. Wenn der Wiener Bürgermeister nicht die Nerven verliert, kann Österreich bald stolz darauf sein, ein sinnloses Projekt rechtzeitig aufgegeben zu haben.
Text: Christian Bunke
Foto: Christopher Glanzl
154 Seiten ist es stark, das Anfang Dezember von Umwelt- und Verkehrsministerin Eleonore Gewessler vorgestellte Evaluierungspapier über die Zukunft großer Straßenbauprojekte in Österreich, dem zusätzlich eine 92-seitige «fachliche Würdigung» beiliegt. Beide Publikationen sind auf der Website des Umweltministeriums öffentlich und kostenlos einseh- und downloadbar. Die Lektüre ist allen zu empfehlen, die sich für das Spannungsfeld aus Straßenbau, Wirtschaftspolitik und Bekämpfung der Klimakrise interessieren.
Von Politik und Wirtschaft werden beide Dokumente jedoch großteils als Frontalangriff auf ihre Interessen verstanden. Laut schwarzen, blauen und roten Politiker_innen aus Wien und Niederösterreich sowie der Wirtschaftskammer habe Gewessler «handstreichartig» die «Zukunftsprojekte» Lobau-Autobahn und Marchfeld-Autobahn ruiniert, ohne jedoch Alternativen anzuführen. Auf diese warte man nun «gespannt», heißt es seit Tagen in miteinander koordinierten Pressekonferenzen und Aussendungen aus Bund und Ländern.
Alternativen, bitte!
Lesen bildet, und so empfiehlt sich ein Blick auf die Seiten 72 bis 75 in der Evaluierung. Dort ist eine umfassende Auflistung von Projekten und Projektvorschlägen zu finden, welche öffentliche Verkehrsalternativen zur Lobau-Autobahn schaffen könnten. Jedes evaluierte Straßenbauprojekt enthält eine solche Liste mit Vorschlägen, wie jeweils vor Ort ein Umstieg vom Auto auf Busse und Bahnen vorangetrieben werden könnte.
Als Ersatz für die Lobau-Autobahn finden sich hier unter anderem folgende Ideen: Ausbau der S-Bahn-Stammstrecke in Wien inklusive deren Außenästen; Kapazitätssteigerungen im Kernbereich zwischen Wien Meidling/Maxing und Floridsdorf/Süßenbrunn durch die Ermöglichung dichterer Taktfolgen; Verbesserung der Angebotssituation durch Verlängerung der Bahnsteige zwischen Floridsdorf und Meidling; Ausbau der Bahnstrecke Wien-Bratislava; zusätzliche donauquerende Kapazitäten im Bahnbereich; Verdichtung und Ausbau des Wiener Straßenbahnnetzes sowie Verlängerung desselben nach Niederösterreich. Man kann all diese hier nur stichwortartig aufgeführten Vorschläge für unzureichend oder ausbaufähig halten; die Behauptung, es gebe keine Alternativkonzepte, gehört aber in den Bereich der Mythen.
Tatsächlich sind die Projekte Stadtstraße, Spange S1, Lobau-Autobahn und Marchfeld-Schnellstraße netzwerkartig miteinander verbunden. Sie bedeuten einen Anschluss Wiens und Niederösterreichs an die transeuropäische Verkehrsroute TEN-25 (s. Augustin Nr. 537, S.6), sollen neue Transportwege nach Osteuropa ermöglichen und außerdem Bauflächen für Logistik, Gewerbe und Eigenheim erschließen.
Keine Atempause.
Die Bedeutung dieser wirtschaftlichen Aspekte wird in der medialen Debatte kaum angesprochen, lässt sich aber im Detail aus der Flut organisierter Wutbürgerlichkeit herauslesen. So kritisiert WKO-Transport-Obmann Alexander Klacska «ein unzulässiges Gegeneinander-Aufrechnen von Ackerland gegen notwendige Infrastruktur». Auch werde es keine Verlagerung von Gütern auf die Schiene geben, denn: «Die beiden Container-Terminals liegen alle auf einer Seite der Donau» und bräuchten deshalb den Tunnel. Der Presse-Service der Stadt Wien ortet in dem Baustopp in einer Aussendung vom 2. Dezember «eine Bedrohung für die wirtschaftliche Weiterentwicklung des Großraums». Darin kommt auch Niederösterreichs Mobilitätslandesrat Ludwig Schleritzko zu Wort: «Der Bau von S1 und S8 würde neue Verbindungen vom Weinviertel in den Süden Niederösterreichs, aber auch in die Slowakei», sowie die Ansiedlung neuer Betriebe ermöglichen.
Überhaupt marschieren Niederösterreich und Wien Arm in Arm für den Autobahnausbau. Beide wollen sich gegenseitig bei etwaigen Klagen gegen den Baustopp unterstützen. Ludwig kann sich inzwischen sogar eine von ihm noch im Juli abgelehnte Volksbefragung vorstellen. Er sei «überzeugt» davon, diese zu gewinnen, sagte er dem profil. Auf die Unterstützung seiner eigenen Jugendverbände kann er nicht mehr zählen. Junge Generation und Sozialistische Jugend lehnen Lobau-Tunnel und Stadtstraße inzwischen öffentlich ab.
Den Autobahn-Befürworter_innen geht es nicht um Verkehrsentlastung, sondern um den Ausbau von Logistik und Infrastrukturen in der Ostregion, samt dazugehöriger wachsender Verkehrsentwicklung. Genau dem will die Evaluierung des Umweltministeriums einen Riegel vorschieben. Auf Seite 6 wird dazu erklärt, «dass ein 2040 dekarbonisierter Landverkehr in Österreich einen Bruch des bisherigen Wachstumspfades bei den Verkehrsleistungen des Straßenverkehrs bedingt, ein Stabilisieren auf das heutige Niveau beim Straßengüterverkehr und einen Rückgang auf das Niveau der 1990er-Jahre beim PKW-Verkehr.» Diese Mobilitätswende habe «zwangsläufig Konsequenzen für die Ausgestaltung der Bauprogramme der Straßeninfrastruktur des Bundes». Somit stehen sich nun zwei wirtschaftspolitische Ansätze gegenüber, zwischen denen kein glaubwürdiger Kompromiss möglich ist. Für die außerparlamentarische Klimagerechtigkeitsbewegung gibt es keine Atempause.
Evaluierung: https://www.bmk.gv.at/service/presse/gewessler/20211201_klimacheck-ASFINAG-bauprogramm.html
Mehr zu den Protesten gegen den Straßenbau: Interview auf S. 14
Projekte, die doch nicht gebaut werden
Kurz vor Jahresende 2020 gab Umweltministerin Leonore Gewessler das Aus für die Waldviertel-Autobahn bekannt. Die Sinnhaftigkeit des Projekts war geprüft worden. Stattdessen sollten 1,8 Milliarden Euro (Stand Dezember 2020) für Infrastrukturprojekte in der und für die Region Waldviertel Nord veranschlagt werden. Die würden in Umfahrungen und Überholspuren für den Autoverkehr, aber auch eine direkte Anbindung der Franz-Josefs-Bahn an die Westbahnstrecke in Wien investiert, auf dass Pendler_innen nicht mehr vom Franz-Josefs-Bahnhof 25 Minuten mit dem 5er durch Wien gondeln müssten, um am Westbahnhof zu landen. Dieses Projektende präsentierten Gewessler und die niederösterreichische Landeshauptfrau Mikl-Leitner noch in professioneller Einigkeit.
Ein Jahr später gibt es ein Mehrfach-Aus für Straßenbauprojekte und keinen Applaus vom Koalitionspartner mehr: Der Projektstopp mit dem meisten «fame» und dem meisten «diss» ist der Lobau-Tunnel. Prominent ignoriert wurden bisher hingegen auch in dieser Zeitung Straßenbauprojekte im Süden: Die Klagenfurt-Schnellstraße mit Kürzel S 37 wird nicht weiter ausgebaut. Sie reicht von Klagenfurt bis St. Veit an der Glan und sollte gemeinsam mit Semmering- und Murtal-Schnellstraße als «Alternativstrecke» zur A 2 Klagenfurt und Wien verbinden. Solcherlei Alternativen sind mit den Klimazielen aber nicht vereinbar. Ebenso gestoppt wird der Ausbau der Autobahn A 9. Südlich von Graz sollte sie auf drei Spuren ausgebaut werden, um mehr und flüssigeren Autoverkehr zu ermöglichen. Das wird nicht passieren: zu viel Bodenverbrauch. Stattdessen würde in den öffentlichen Verkehr investiert, unter anderem soll die Bahnstrecke Graz–Spielfeld auf zwei Gleise erweitert werden.
Auch die Traisental-Schnellstraße (S 34) wird nach jahrelanger Planung ad acta gelegt: zu viel Versiegelung von landwirtschaftlichen Böden. Zusätzlich stellte der Rechnungshof hier die Kompetenzfrage: Wieso will der Bund eine Straße von regionaler Bedeutung bauen?