Die Buchhandlung Gamayun bringt russischsprachige Literatur nach Hernals. Sie soll auch ein Community-Zentrum sein, in dem man sich über queer-feministische oder einfach gute Bücher austauscht.
Text: Magdalena Mayer
Fotos: Carolina Frank
Zielsicher nimmt Lunio, der sich mit Künstlernamen Kondraty Hvatit nennt, schön gebundene Bücher aus dem Regal und legt sie sacht auf den Tisch, blättert zu Illustrationen. Aus einem wissenschaftlichen Leitfaden zu antiker russischer visueller Dämonologie stechen bunte Höllenbilder hervor. Ein Buch über die Baker Street veranschaulicht die Ära von Sherlock Holmes. Es sei wichtig, Buchausgaben in gedruckter Form zu lesen und zu verbreiten, sagt Lunio. Er hat Kunst studiert, aber auch Literatur spielt für ihn schon lange eine Rolle. Einmal habe er nach einer Reise Zoll für 38 Kilo Druckwerke bezahlt, er hatte sie in einem Geschäft in Minsk entdeckt und musste sie nach Wien holen, erzählt er und lacht.
Sasha Skorykh teilt diese Faszination für Bücher. Zusammen haben sie jetzt noch etliche Kilo mehr von Independent-Verlagen aus Russland bestellt: Diese sind der Grundstock für Gamayun, ihre als Verein für russische Literatur und Kultur angemeldete unabhängige Buchhandlung. Dass eine Stadt eine solche hat, sei auch wichtig, findet Lunio, ebenso brauche es Treffpunkte einer Community. Für Lunio und Sasha ist das die russischsprachige Queer-Community. In Wien, haben sie bemerkt, würden sich russische Gruppen selten austauschen, vor allem, was queere Kultur und Identität betrifft. Mit Gamayun haben sie nun in Hernals einen alternativen Ort geschaffen, an dem man zusammenkommen und frei über russische Bücher und die politische Situation sprechen kann, über queer-feministische Autor_innen oder einfach über Literatur in ihrer Vielfalt.
Über kulturelle Differenzen hinweg.
Als sich Lunio und Sasha 2014 in St. Petersburg kennenlernten, war kürzlich Russlands umstrittenes Gesetz gegen «Homosexuellen-Propaganda» in Kraft getreten, das positive Äußerungen über gleichgeschlechtliche Liebe in Anwesenheit von Minderjährigen untersagt. «Eine schwierige Zeit», erinnert sich Sasha, die nach einem Studium der russischen Literatur nicht nur als Lehrerin arbeitete, sondern auch eine der ersten St. Petersburger LGBTQ+-Organisationen mitbegründet hatte. Für diese engagierten sich beide, bis sie sich wegen Drohungen entschieden, zuerst nach Budapest und dann nach Wien zu emigrieren. Sasha studierte an der Central European University in Budapest und an der Universität Wien Frauen- und Geschlechtergeschichte, arbeitete als Sozialberaterin und ehrenamtlich im Zentrum für queere Geschichte, dem QWIEN. Lunio, der Asylstatus beantragt hat, ist künstlerisch tätig, macht zum Beispiel unter dem Titel Gnigi Illustrationen zu Sashas Texten, die sie in der Tradition des russischen «Samizdat», des zensurfreien Selbstverlags, veröffentlichen.
Seit 2015 leben sie in einem intersektionalen Haus, dessen Trägerverein «für die Barrierefreiheit in der Kunst, im Alltag, im Denken» sie mit anderen ins Leben gerufen haben, um über kulturelle Differenzen hinweg Dialog zu ermöglichen und Kultur zu schaffen – eine Intention, die sie in die Buchhandlung mitnehmen. Als sich im Haus die Bücher stapelten, witzelten sie, dass sie eine Buchhandlung gründen könnten. Mit Handel hatten bis dahin beide nichts zu tun gehabt. Dennoch wurde aus dem Witz schnell Ernst. Mit Hilfe der Mailingliste Femail fanden sie in der Kalvarienberggasse das Atelier des Kollektivs United Queendoms und mieteten sich ein. Mittels Fundraising finanzierten sie den Start. Seit Jänner ist Gamayun an vier Tagen pro Woche für Russisch Sprechende, Lesende, Lernende und daran Interessierte geöffnet. «Jede Person kann kommen, etwas präsentieren, sich austauschen», betont Sasha die Wichtigkeit der Vernetzung und die Bandbreite der russischen Kultur, die auch über Bücher hinausgehen kann. Für die Zukunft denken sie neben Gesprächen und Lesungen auch an Filmabende, Lunio bietet bereits eine Keramikwerkstatt an.
Queer und darüber hinaus.
Gerade stehen die ersten Bücher im Mittelpunkt. Zwischen ihnen sitzen im Regal Vogelwesen aus Ton, die Lunio angefertigt hat. Darunter ein Gamayun, jener Paradiesvogel der russischen Folklore, der ihrem Projekt den Namen gibt. «Er ist mit Mythologie, aber nicht mit nationalistischen Ideen verknüpft. Es heißt, er prophezeie den Fall von Tyrannen», erklärt Sasha: Etwas Widerständiges symbolisiert der stets mit Frauenkopf dargestellte Gamayun ebenso wie Wissen und Weisheit. Ein schönes Symbol, meint sie und erzählt von einem finnischen Verlag für russische Literatur, der nach Gamayuns Geschwistervogel Alkanost benannt wurde. Mit diesem habe man sich über den Namen der verwandten Kreatur gedanklich verbunden, fügt sie hinzu, «als Erinnerung, dass russische Literatur überall gelesen und gedruckt werden kann».
Leicht ist es für die beiden noch nicht, Bücher aus Russland zu bekommen. Zwar würden Kleinverlage tolle Bücher produzieren, doch hätten sie oft keine Erfahrung mit Versand. So trudelt die Ware langsam ein, aber schon ist Spannendes darunter: Vom Verlag Samokat illustrierte Kinder- und Jugendbücher «über wichtige Themen, wie eine Graphic Novel über den Menschenrechtsaktivisten Andrei Sacharow», zeigt Sasha; von Neolith ethnologische Werke, von Tatlin Bücher über Kunst und Architektur. Mit Limbus haben sie einen der traditionsreichsten Privatverlage im Programm; von No Kidding Press bestellen sie auch ins Russische Übersetztes, das sie für besonders halten, etwa die Kopenhagen-Trilogie von Tove Ditlevsen.
«No Kidding Press verlegt auch queere Autor_innen und Bücher über Feminismus, aber das ist nicht einfach», ergänzt Sasha. Da Queeres in Russland erst ab 18 Jahren erlaubt ist, könnte jedes Buch einen Skandal auslösen. Umso wichtiger ist es Sasha und Lunio, einen Fokus darauf und auf weibliche Autorinnen zu legen, die in Russland die Minderheit sind. Ihr Angebot wird aber weit darüber hinausgehen. «Wir wollen gute Bücher haben, die wir selbst mögen, sie sollen zu unserer Meinung passen und kein Mainstream sein, sondern interessante Werke, die in Russland von Bedeutung sind», sagt Sasha. Im Moment haben sie ausschließlich Gegenwartsautor_innen. Später vielleicht, wenn ihr Projekt gewachsen ist, werden sie hierzulande weniger bekannte Klassiker anbieten. Wachsen wollen sie unbedingt. Sie träumen davon, vom Buchhandel zu leben und mit ihren Büchern eine Öffentlichkeit außerhalb ihrer Community zu erreichen.
Gamayun
Mo–Mi & Sa, 14–20 Uhr
17., Kalvarienberggasse 5/4
www.gamayun.tilda.ws