Mindestsicherung: Reality Checktun & lassen

Weil die Leistungen der Mindestsicherung zu hoch seien, geht keiner mehr arbeiten. Deshalb müsse man sie kürzen oder zumindest deckeln, um jene Arbeitsanreize zu schaffen, die derzeit angeblich fehlen. Wenn diese Thesen stimmen würden, müsste sich das aus den Daten und anderen Quellen ablesen lassen. Die Armutskonferenz hat deshalb nachgerechnet. Das Ergebnis: die Realität ist nicht so simpel, wie man uns glauben machen will.Die Zuwachs-Raten von Menschen mit ‪‎Mindestsicherung‬ sind nicht in den Bundesländern mit den hohen Leistungen am höchsten, sondern in denen mit den niedrigsten. Und: Familien mit Kindern sind schneller aus der MS draußen als Alleinstehende.

Die Realität hält sich nicht an die Theorie vom Lohnabstandsgebot. Betrachtet man den Anstieg der Leistungsbezieher_innen seit 2012, zeigen sich die stärksten Anstiege nicht vorrangig bei den Ländern mit den höchsten Leistungen: In OÖ und NÖ, die zur Gruppe der Bundesländer mit niedrigen bzw. mittleren Leistungshöhen zählen, sind die Anstiege mit + 23,8% bzw. + 27,3% wesentlich höher als in Tirol (+13,0%), dem Land mit dem höchsten Leistungsniveau.‬

In der Logik der Armutsfallen-Theorie ist die Verlockung, Mindestsicherung zu beziehen statt auf Erwerbsarbeit zu setzen, umso größer, je mehr Personen versorgt werden müssen. Die Wirklichkeit hält sich aber wieder nicht an die Theorie und zeichnet ein ganz anderes Bild. Gerade einmal 2% aller MS-beziehenden Haushalte setzen sich aus Paaren mit 4 oder mehr Kindern zusammen. Mehr als 60% aller BMS-BezieherInnen leben alleine oder sind als einzige Person im Haushalt anspruchsberechtigt. Weiters zeigen die Daten, dass die überwiegende Mehrzahl Mindestsicherung kurzzeitig bezieht. Die durchschnittliche Bezugsdauer beträgt zwischen 6 und 9 Monaten, bei 20% der unterstützten Haushalte ist sie kürzer als 3 Monate. Viele kommen raus, andere pendeln zwischen prekären Jobs und BMS, andere arbeiten mit Teilhilfe aus der Mindestsicherung in schlecht bezahlten Jobs. Dauerbezieher_innen sind in Wien beispielsweise unter 10%.

Reale Menschen ticken nicht so simpel, wie die Theorie glauben machen will. Natürlich spielt Geld eine wichtige Rolle. Aber reale Menschen sind schlauer und stellen sich eine Vielzahl an Fragen: Kann ich Job und Kinderbetreuung unter einen Hut bringen? Bekomme ich später wieder einen Job auf meinem Qualifikationsniveau, wenn ich mich jetzt „unter Wert“ verkaufe? Aber auch: Was denken die Nachbar_innen von mir, wenn ich die ganze Zeit zuhause bin? Was soll ich auf Dauer die ganze Zeit über mit mir anfangen? Was heißt das für meine Altersversorgung etc.? Bei der Frage, ob jemand erwerbstätig sein will oder nicht, geht es eben auch um Fragen der Unabhängigkeit, der gesellschaftlichen Anerkennung, um den Wunsch nach Tagesstruktur und einer sinnstiftenden Beschäftigung.

Gründe für den Anstieg der Mindestsicherung liegen anderswo: Bei fehlenden Arbeitsplätzen, steigenden Wohnkosten in den Städten, physischen und psychischen Beeinträchtigungen, prekären und nichtexistenzsichernden Jobs. Auf eine beim AMS gemeldete freie Stelle kommen 16,1 Jobsuchende. Daran können Kürzungen und Deckelungen bei der Mindestsicherung nichts ändern.