Lokalmatador
Ilkim Erdost will möglichst vielen jungen Menschen zu fairen Chancen verhelfen.
Text: Uwe Mauch, Foto: Mario Lang
Der Veranstaltungssaal in der «Jugendzone 16» am Ende der Ottakringer Straße ist heute bestens besucht. Die Mitarbeiter_innen des Vereins Wiener Jugendzentren sind schon gespannt, welche Ziele ihre Geschäftsführerin für das neue Jahr ausgeben wird.
«Wir haben pro Jahr gut 60.000 Kontakte», hält Ilkim Erdost vorab noch fest. «Darunter sind 20.000 Jugendliche, die regelmäßig zu uns kommen.» Ihnen stehen 250 pädagogische Mitarbeiter_innen des Vereins an vierzig Standorten, verteilt auf die ganze Stadt, zur Verfügung. Mit der offenen Jugendarbeit hat man in Wien vor bald vierzig Jahren begonnen. Ilkim Erdost erklärt daher auch: «Sie gilt international als vorbildlich.»
Brisant.
Das übergeordnete Ziel für 2020 beschreibt die Fachfrau fürs Gemeinwohl so: «Mehr Mitbestimmung für junge Menschen in dieser Stadt.» Bei einem Blick auf aktuelle Statistiken zeigt sich, dass diese Ambition durchaus brisant ist: Demnach werden 72.000 Jugendliche, die schon seit Jahren in Wien ihren festen Wohnsitz haben, aufgrund ihrer Herkunft von den bevorstehenden Gemeinde- und Bezirksratswahlen ausgeschlossen sein. «Das ist mehr als ein Drittel», gibt Ilkim Erdost zu bedenken. Sie warnt vor einer demokratiepolitisch negativen Spirale. Die Nicht-Einbindung einer derart großen Gruppe würde auch die tägliche Arbeit in den Jugendzentren tangieren: «Wir wollen den jungen Leuten ihre Rechte und Pflichten näherbringen. Wir wollen ihnen zeigen, wie sie ihre eigenen Standpunkte artikulieren können und gleichzeitig andere Meinungen akzeptieren sollen. Doch viele fragen uns, warum sie sich dafür interessieren sollen, wenn sie in ihrer eigenen Stadt nicht einmal wählen dürfen.»
Ungerecht.
Das Thema Gleichberechtigung beschäftigt sie seit ihrer Kindheit, erzählt die Tochter eines türkischstämmigen Journalisten und einer ebenso türkischstämmigen Elektrotechnikerin dann. Früh habe sie mitbekommen, dass nicht alle mit demselben Maß gemessen werden. So konnte ihre Mutter nach Abschluss der Höheren Technischen Lehranstalt nicht in ihrem angestrebten Beruf arbeiten. Weil eine Frau, noch dazu mit der Zuschreibung «Ausländerin», in einem technischen Beruf einfach nicht vorgesehen war.
In den ersten zehn Jahren ihres Lebens musste ihre Familie öfters den Wohnbezirk wechseln. «Damit ist man konfrontiert, wenn das Einkommen nicht hoch ist», weiß Ilkim Erdost aus eigener Erfahrung. «Dann sind die Wohnungen selten so, dass man länger drinnen bleiben möchte.»
Die Geschäftsführerin des gemeinnützigen Vereins ist bis heute sensibel für soziale Schieflagen. Für junge Menschen, die bereits mit 16, 17 Jahren unter Druck geraten, möchte sie Freiräume, Zeit und Ressourcen schaffen: «Damit sie sich dort in Ruhe ausprobieren, reiben und entwickeln können.»
Schon zu Beginn ihrer beruflichen Tätigkeit hat sie ein übergeordnetes Ziel für sich definiert. Dieses Ziel verfolgt sie auch heute: «Ich möchte konkrete Benachteiligungen aufwiegen, damit Menschen ihr Leben, ihre Zukunft selbst gestalten können.»
Sie selbst konnte gestalten: Nach Matura und Abschluss der vierjährigen Fachhochschule für Informationsmanagement in Eisenstadt begann Ilkim Erdost als Parlamentsmitarbeiterin, zuständig für die Familienthemen der SPÖ. Danach habe sie bei einem sechsmonatigen Volontariat für eine Frauen-NGO in Costa Rica «gelernt, meine eigene Ungeduld zu hinterfragen und wichtigen Entscheidungen mehr Zeit zu geben».
Nach ihrer Rückkehr im Jahr 2007 begann sie, die Medienarbeit für den Wiener Arbeitnehmer_innenförderungsfonds zu machen. Zwei Jahre später brachte sie ihre Tochter zur Welt, weitere zwei Jahre später übernahm sie mit viel Ambition die Direktion der Volkshochschule Ottakring. Zwischendurch studierte sie ein Jahr lang an der London School of Economics: «International Migrations and Public Policy».
London war eine weitere wichtige Station in ihrem Leben: «Ich hatte dort außerordentlich gute Lehrer_innen. Gleichzeitig konnte ich durch den direkten Vergleich die Infrastruktur in Wien so richtig schätzen lernen.»
Erfreulich.
Die Rückkehr in ihre weniger Stress erzeugende Heimatstadt sei ihr nicht schwergefallen. Ottakring ist ihr Bezirk geblieben. Zur Zentrale des Vereins der Wiener Jugendzentren an der Prager Straße fährt Ilkim Erdost mit dem Fahrrad – entlang des Donaukanals. Dort fand das (unfreiwillige) Erstgespräch mit dem Autor dieser Zeilen statt. Sie verständigte die Rettung, als dieser vom Rad gestürzt war, und wartete an seiner Seite bis zum Eintreffen der Einsatzkräfte. Ein Glück im Unglück!