1. Tag: Mitterbach – Hagengut – Ötscherhias – Stierwaschboden – Erlaufboden
Ich beginne mit dem Moment, als wir uns von den Eltern verabschieden, ich und mein Hund. Sie haben uns davor vom Parkplatz in Mitterbach bis hierhin, zum Ötscherhias, Gesellschaft geleistet. Und sie haben uns überhaupt erst hierher gebracht.
Grafik: Andrea Vanek
Mit einem Auto, das schon ein paar Jahre älter ist als mein alter Hund. Warum sie trotzdem nicht Teil dieser Erzählung sind? Weil sich ab dem Moment, als sie uns verlassen, alles ändert. Weil wir ab diesem Augenblick auf uns allein gestellt sind. Ich war noch nie völlig allein unterwegs (und eigentlich bin ich es auch jetzt nicht, aber weil der Hund nicht derjenige ist, der sich um mich zu kümmern hat, sondern umgekehrt, scheidet er in dieser Hinsicht aus). Der Hund läuft mit. Es geht um uns beide. Diese Geschichte ist eine Liebeserklärung an meinen Hund. Diese Geschichte ist wahr. Und sie beruht auf Tatsachen. Wir können das nicht beweisen, weil wir die einzigen Augenzeugen sind.
Zuerst denke ich, der Hund wird nicht verstehen, dass meine Eltern nun kehrtmachen und wir weitergehen müssen. Sie verabschieden sich von mir – sie drücken mich, als wäre ich ein Geselle, der sich auf eine monatelange Wanderung begibt – und vom Hund. Er erhält liebevolle Klapse auf die Rippen, das Fell wird ihm ruppig mit vor Liebe zusammengebissenen Zähnen zerwühlt. Sie sagen: «Tschüss! Bis bald, und ruf an, wenn …» Von all dem scheint der Hund kaum Notiz zu nehmen. Er wedelt zwar pflichtbewusst mit dem Schwanz, aber in Gedanken ist er ganz woanders.
Wir überqueren den ersten Holzsteig über die Schlucht, durch die sich gurgelnd und sprudelnd der Bachfluss frisst. Und plötzlich ist es, als wäre eine große Last von unseren Schultern gefallen. Ich atme auf, der Hund ist voller Elan. Mit einem Schlag hat er seine Phantomangst vor Gewittern und Monstern vergessen. Ist es wirklich so anstrengend, beschützt zu werden? Oder liegt es daran, dass das wirkliche Abenteuer für uns zwei erst jetzt beginnen kann? Der Hund dreht sich noch einige Male um. Er bleibt immer wieder stehen und läuft ein Stück zurück. Das macht mich nervös. Wenn er mir hier davonläuft, muss ich den ganzen Weg zurück. Ich leine ihn an, ich leine ihn ab, weil es zu lästig wird, vollbepackt auf seine abrupten Manöver zu reagieren. Er ist energiegeladen, obwohl wir schon seit über einer Stunde unterwegs sind, und das in einem sehr gebirgigen Gelände. Immerhin trägt er ein Kilo Futter in den Taschen, die ich seitlich an seinem Geschirr befestigt habe. Das Gewicht veranlasst ihn, die Vorderbeine wie ein Lipizzaner in die Luft zu schleudern. Trotzdem rennt er, als würde er hinter der nächsten Kurve eine freudige Überraschung erwarten. Er ist unvorsichtig. Der Pfad besteht aus spitzkantigem weißem Geröll, abgelöst von vereinzelten Brücken und Stegen. Manche wurden aus jungen, der Länge nach halbierten Baumstämmen angefertigt, die unterschiedlich hoch aufragen, und zwischen ihnen verlaufen unregelmäßige Spalten. Man muss aufpassen, um nicht in so einer Lücke stecken zu bleiben. Dem Hund ist das egal. Er sorgt sich nicht um etwas, was vielleicht passieren könnte. Er kennt keinen Konjunktiv. Ich leine ihn wieder an. Wir folgen diesem schmalen Steig, der wiederum am Flussbett ausgerichtet ist. Mal erscheint das Wasser als plätscherndes Rinnsal, mal stürzt es sich in Wellen wie die glänzenden Strähnen der Haare aus einer Shampoowerbung wagemutig über steinerne Abgründe. Der Weg wetteifert mit dem Fluss. Er steigt und fällt, bis er sich fast auf einem Niveau mit ihm befindet. Seitlich erheben sich die Berge – mächtig mit rauhgezackten Felskämmen zwischen dunkelgrün bewaldeten Erhebungen und Senken. Immer wieder blitzt das saftige Hellgrün von Almwiesen durch. Hier unten in der Schlucht erscheint alles so nah und klein, aber wenn ich die Berghänge besehe – dazu muss ich den Kopf weit in den Nacken legen – wird mir bewusst, wie groß und weitläufig, wie hoch und unerreichbar, wie unbezähmbar und fremd diese Wildnis ist. Schwadenförmig schürfen die Wolken über die Köpfe der Giganten. Eine seltsam melancholisch-düstere Stimmung kommt in mir hoch. Sie ist der nicht unähnlich, die mich befällt, wenn ich nachts in den Sternenhimmel schaue: Zu groß, um es zu verstehen. Mir kommt sie vor wie eine Warnung, dass die Natur keine Rücksicht auf ihre Geschöpfe nimmt. Die verhangenen Spitzen und Buckel machen ein unfreundliches Gesicht zum unbedeutenden kleinen Schauspiel unserer Leben. Hier treffen zwei Welten aufeinander, die nicht zusammenpassen. Ich denke an den Gosausee, eine Landschaft mit einem erbarmungslos gewaltigen Gebirge rings um einen lieblich-kitschigen See, die mich immer ein wenig traurig macht. Ich weiß nicht, warum. Aber ich glaube, es geht um Schein und Wirklichkeit – ein Thema, mit dem ich mich genügend befasst habe.
Hier treffen zwei Welten aufeinander, die nicht zusammenpassen
Wir erreichen eine Brücke, deren Boden aus einem grobmaschigen Eisengitter besteht. Ich wundere mich noch, dass der Hund sie so bereitwillig betritt. Er spreizt seine Pfoten, als er unbeholfen hinüberstakst, das Gepäck auf seinem Rücken wackelt bei jedem Schritt. Spreizt er die Zehen freiwillig oder werden sie ihm beim Aufsetzen auf das Gitter auseinandergepresst und bewirken, dass seine schmiergelpapierenen Ballen durch die Löcher hindurchquellen? Es tut mir schon weh, wenn ich nur darüber nachdenke. Am Ende der Brücke ist Schluss mit seiner Kooperation. Kann er die Stufen nicht sehen, die zum Weg hinunterführen? Er möchte umdrehen, er winselt, er mault. Ich versuche ihn zu überreden. Ich zerre an seinem Geschirr. Er glaubt mir nicht. Ich lege meine Hand auf die oberste Stufe, damit er sieht: Da ist tatsächlich ein Boden. Ich stelle meinen Fuß darauf. Endlich versteht er, oder er vertraut mir. Die erste Hürde ist geschafft. Hoffentlich bleibt das die einzige Eisengitterbrücke. Ich werde ihn unmöglich tragen können, er hat fast dreißig Kilo. Ich lobe ihn. Er freut sich. Er hat wieder diesen Blick aufgesetzt – ein stolzes Kleinkind. Trotzdem lässt er sich nicht auf mein gemütliches Tempo ein. Er weiß ja nicht, wie viel Weg noch vor uns liegt. Ich fädle das Ende der Leine in den Hüftgurt meines Rucksacks. So kommt mir seine überschüssige Energie wenigstens zugute. Aber ich fühle mich wie ein elendiger Nutznießer. Der Hund ist über zwölf Jahre alt.
Kurze Rast
Die Umgebung verändert sich, obwohl das so eigentlich nicht stimmt. Wir durchschreiten sie, und sie sieht überall ein bisschen anders aus. Aber sie bleibt immer dieselbe. Eher noch verändert sie uns. Wir werden hungrig werden, wir werden Fett verbrennen. Unsere Knie werden zittern. Wir werden durstig sein. Unsere Muskeln werden schmerzen. An zwei Stellen machen wir kurz Rast. Ich befreie den Hund jedes Mal von seinem Gepäck und lasse ihn im Wasser plantschen. Es ist rührend, wie freudig er wieder ins ein Geschirr schlüpft. Fast als hätte er begriffen, dass das seine Last, seine Verantwortung ist. Die Eltern sucht er nicht mehr. Es war doch gut, dass sie uns so offen und ausgiebig Auf Wiedersehen gesagt haben. Hin und wieder reißt die Wolkendecke mit ihren wurzelartigen Ausläufern auf und ein Fleckchen Blau leuchtet herab. Für Sekunden sogar die Sonne. Ich friere und schwitze abwechselnd. Irgendwann treten wir unvermutet auf eine Lichtung. Ein altes großes Haus der EVN bildet den Auftakt zu einer Reise entlang von Energieerzeugung. Wir setzen unseren Weg an einem Stausee fort bis zur Staumauer und dahinter weiter immer seitlich neben geteerten Holzmasten, die Leitungen – ich weiß nicht, ob für Telefon oder Elektrizität –, die ein Dörfchen mit dem anderen quer durch die Berge vernetzen. Von Zeit zu Zeit hängen die Leitungen beunruhigend tief herab. Ich frage mich, ob der Hund die Spannung spüren kann, wie es meiner Einschätzung nach auch bei Unwettern der Fall ist. Der Wald, das Wasser, der Boden – alles verändert sich zu einem weniger alpinen Erscheinungsbild. Alles wird weicher, feuchter, versöhnlicher. Wenige Menschen begegnen uns. Sie sehen glücklich aus. Man grüßt sich mit einer Seligkeit im Gesicht, die überall sonst Anlass zur Scham gäbe. Ein großer, freundlicher Mann hastet mit zwei Trekkingstöcken im Laufschritt an uns vorbei. Seltsam übertriebener Sport, denke ich. Wir begehen einen grasigen Hang unter einer steilen Felswand, auf dieser Seite verläuft der elektrische Strom, auf der anderen, einige Meter weiter unten der wässrige. Das andere Ufer besteht nur aus zerklüftetem, nacktem Fels mit kreisrunden Höhleneingängen.
Man kann sich vorstellen, hier auf einen Bären zu treffen
Man kann sich vorstellen, hier auf einen Bären zu treffen. Was würde ich tun? Ich weiß es nicht. Den Hund ableinen und ihm meinen Rucksack entgegen schmeißen vielleicht. Der Weg wird mir lang und dem Hund wohl auch. Jedenfalls haben unsere sechs Beine einen Rhythmus ausverhandelt, mit dem wir beide gut vorankommen.
So trotten wir, geleitet von den kantigen weißen Steinen auf einer Schmalspur, durch eine Leine von meinem Bauchnabel zu seinen Schulterblättern beinah wie durch eine Nabelschnur verbunden, in Richtung des nächsten Ortes. Manchmal befürchte ich einen Regenguss oder Schlimmeres. Stürmische Böen zerzausen die Baumkronen. Es wird Zeit, dass wir einkehren. Mein Hintern und mein unterer Rücken tun weh. Die Stellen, wo die Riemen zwischen Brust und Schultern aufliegen, ebenfalls. Der Hosenbund reibt an der dünnen Haut über meinen Knochen. Auch der Hund zeigt erste Ermüdungserscheinungen: Er zögert vor einem wadenhohen Sprung auf einen Brettersteig und tut seinen Unmut über so eine Zumutung durch eine Mischung aus entrüstetem Schnauben und gequältem Murren kund. Nach einem waldigen Stück, das mich an die Rapottenstein-Runde erinnert, kommen wir an einem Parkplatz an. Anfangs denke ich, es handelt sich um Wienerbruck, doch die Wegweiser zum Gasthof Digruber beseitigen den Irrtum. Wir sind bereits in Erlaufboden, unserem Ziel für heute. Ich muss die Abzweigung in die vorige Ortschaft übersehen haben.
Das Zimmer gefällt mir. Es ist durch und durch altmodisch. Es gibt keinen Fernseher. Dusche und Waschbecken befinden sich im selben Raum wie das Bett, der Tisch und die Kleiderschränke. Der Schiffsboden wurde mit demselben Wachs behandelt wie der bei uns zuhause. Er ist von orange-gelblicher Farbe und knarrt genauso entsetzlich. Die Duschnische und die Wand hinter dem Waschbecken hat man mit mittelgroßen quadratischen Fliesen beklebt. Sie sind cremefarben und haben ein Blumenmuster in der Farbe von zwischen den Seiten schwerer Folianten gepressten Pflanzen. Vor der Dusche am Boden hat man einen kleinen Bereich mit wenigen Quadratzentimeter großen Fliesen in Naturweiß, Beige und Dunkelbraun gelegt. Die eckigen furnierten Möbel besitzen eine ähnliche beige Farbe wie der Hintergrund der Keramikfliesen. Sie sehen billig aus, aber sie passen ins Zimmer. Es ist einfach, aber es folgt einer Ordnung, die mich zufrieden macht. Alles sieht aus wie die Überbleibsel aus der Zeit meiner Kindheit. Sogar die Schlösser an den Türen und die Schlüssel darin haben dieselbe Form wie jene bilderbuchhaften Ausprägungen bei uns, bevor sie ausgetauscht wurden.
Draußen pfeift der Wind
Nachdem ich den Hund mit einer viel zu großen Portion Welpenfutter mit extra hohem Frischfleischanteil gefüttert, selber von meinem Bauern(didi)brot und dem Hartkäse gegessen und ein paar Bananenchips verdrückt habe, mich lange heiß geduscht und aufgewärmt habe, gebe ich ihm noch eine letzte Gelegenheit, sein Geschäft zu erledigen. Draußen pfeift der Wind. Ich sehe, dass die Wolken davontreiben. Morgen wird es schön. Ich bringe den Hund zu einer Brücke an der Erlauf, wo er in seiner typisch hündischen fröhlich-naiven Art das Maul ins Wasser taucht. Es hat den Anschein, als wollte er es essen. Er geht hinein, bis sein Rumpf das Wasser berührt, streckt den Hals und sperrt den Unterkiefer auf. So schlappt er Wasser, wenn er richtig durstig ist. Wie wenn man eine Flasche volllaufen lässt.
Mit dem Hund unterwegs zu sein, ist anstrengend, aber es macht mich sehr glücklich
Innerhalb weniger Stunden habe ich mich an seine Anwesenheit gewöhnt. Und er sich an die meine. Es ist anstrengend mit ihm. Ich muss ihm so viel Aufmerksamkeit schenken und ständig aufpassen, dass er nichts Dummes anstellt; dass er nicht ausrutscht oder abstürzt oder jetzt: dass er nicht auf die Straße läuft. Manchmal muss ich sogar Acht geben, dass er mich nicht verletzt mit seinem ungestümen, unbekümmerten Wesen. Über ein Gefälle mit rutschigen Felsen und nasser Erde zu balancieren, wenn man einen Hund an der Leine und einen Rucksack am Buckel hat, ist keine einfache Sache. Mit dem Hund unterwegs zu sein, ist anstrengend, aber es macht mich sehr glücklich. Ich denke an nichts außer an sein Wohlbefinden, weil davon abhängt, ob wir weiterkommen oder nicht. Ebenso denke ich an mein unmittelbares Wohlbefinden, weil das des Hundes davon abhängt. Aber ich mache mir keine grundsätzlichen Sorgen um mich selber. Ich lebe ganz selbstvergessen vor mich hin. Ich verschwende nicht einen Gedanken an höhere Fragen. Meine einzigen Überlegungen lauten: Wie geht es uns? Können wir noch weiter? Haben wir Hunger oder Durst oder Schmerzen? Brauchen wir etwas? So stelle ich es mir mit Kindern vor, nur extremer. Ein Kind kann man nicht an die Leine nehmen. Man kann es nie allein lassen. Wenn der Hund und ich wieder zuhause sind, wird er die meiste Zeit des Tages ohne mich verbringen. Er wird im Garten liegen und sich in der Wiese struhlen, er wird die Nachbarn verbellen und dem Vater beim Essen zuschauen. Ein Tier hat viele «Vorteile» gegenüber einem Kind. Es dauert nicht so lange, bis es erwachsen wird. Man kann sich zumindest nicht verbal mit einem Tier streiten, also kann es auch nicht rechthaberisch sein. Ein Tier ist nur sehr kurz beleidigt, wenn es überhaupt genügend Intelligenz besitzt. Es lügt nicht, und es führt einen nicht an der Nase herum. Aber es bleibt eine unüberwindliche Mauer zwischen einem Menschen und einem Tier. Der Hund ist ein Hund. Ich bin keiner. Es gibt Welten, in die wir einander nicht folgen können. Ich möchte gerne wissen, wovon er träumt, wenn auf der Seite liegt, die Augen hinter geschlossenen Lidern rollend, die Pfoten zuckend und ein helles Welpenwuffen von sich gebend, das seinen ganzen Körper durchfährt. Was geht vor in seinem Kopf, jetzt da er eingesehen hat, dass es es heute nicht mehr weitergeht und er schließlich mit schicksalsergebenem Gebrumme endlich auf dem Teppich neben dem Bett eingeschlafen ist?
Die Fortsetzung folgt in Ausgabe 437, und kann auch hier gelesen werden.