Schön wie das SchweigenArtistin

Am 13. September erlag Tina Dermitzakis, 46, dem zu spät diagnostizierten Krebs

tinadermitzakis1a.jpgIm Stadtkino war kürzlich Julien Temples Dokumentarfilm The Future Is Unwritten zu sehen. Ein stimmiges Porträt des Sängers und Gitarristen Joe Strummer, der als Frontman der Band The Clash zu einer Schlüsselfigur des britischen Punk geworden war und Ende 2002 an einem nie diagnostizierten Herzfehler verstarb wie Tina v o r seiner Zeit, als Fünfzigjähriger. Einmal wurde der junge Joe Strummer gefragt, wo er sich als Vierzigjähriger sehe, welche Karriereziele er habe. Ich möchte meine Würde behalten, lautete die knappe Antwort. Als Tina diesen Satz, wenige Wochen vor ihrem Tod, in einer Falter-Filmrezension gelesen hatte, konnte sie Tränen kaum zurückhalten.

Die spontane Schlichtheit dieses Kommentars zur Karriere-Idee musste aus Strummers Herzen kommen, fühlte Tina, weil sie plötzlich wusste, dass das Verlachen eitler Pläne, ein Lachen aus i h r e m Herzen heraus, wortwörtlich genau so hätte klingen können. In einem der weltweit größten Pharmakonzerne hätte Tina Dermitzakis, zumindest in den österreichischen Filialbetrieben, realistischerweise eine Karriere mit entsprechendem Auskommen anstreben können.

Das Eitelkeitsdefizit erklärt nicht erschöpfend Tinas Entscheidung, den Konzern zu verlassen und zunächst schreibende (und bis zuletzt fotografierende und lektorierende) Mitarbeiterin des Augustin, dann Mitarbeiterin des Aktionsradius Augarten bzw. Aktionsradius Wien zu werden. Entscheidend war auch ihre Lust auf unentfremdete Arbeit, auf einen Beruf, der ihrer Individualität angewachsen ist wie die Gitarre an Joe Strummer. Geld oder Glück, so lautete die Alternative, etwas verkürzt formuliert. Tina entschied sich für Letzteres. Aber wie reimt sich Glück auf die Krankheit, die Tina aus dem Leben riss?

Tina hat viel gelesen, aber für Menasses neuen Roman Don Juan de la Mancha blieb ihr keine Zeit mehr. Die damals gängigen Wahrheiten der Achtundsechziger streifend, die immer auftauend provokativ und nonkonform, dabei aber manchmal haarsträubend simpel waren, schreibt Menasse; Krebs, das hatte ich bei Wilhelm Reich gelernt, war die Krankheit der buchstäblich Glücklosen, der ewig Unbefriedigten. Eine Hungerrevolte der Seele gegen den Mangel an Lust. Ein immerhin diskussionswürdiges linkes Dogma, das Tina vertraut gewesen sein müsste, die zwar im biografischen Sinn keine Achtundsechzigerin war, aber doch ein Mensch im Geiste von 68. Tinas Schicksal ist, um Milde für Wilhelm Reich walten zu lassen, nicht gerade der beste Beleg für dieses Dogma.

Eher ein Beleg für ein landläufigeres und populäreres: dass nämlich Krebs die Krankheit von Menschen sei, die mehr auf andere als auf sich schauen. Darüber keine Spekulationen! Diesem Mehr auf andere als auf sich … jedoch müsste gefolgt werden, als Erinnerungsbild tauchte es in den Gesprächen der von Tinas Tod Entsetzten entschieden häufiger als andere Erinnerungsbilder auf. Ich bin halt ein Kümmerer, ich kann nicht aus meiner Haut, hat Tina einmal geantwortet, als ihr dieser Charakterzug vorgehalten wurde. Als 16-jähriges Mädchen hat Tina ihren nach Schlaganfällen hilfsbedürftig gewordenen Vater gepflegt, wenn die Mutter nicht konnte. Und vor zwölf Jahren begleitete die inzwischen zu Mario Langs Lebensgefährtin gewordene Frau ihre alzheimerkranke Mutter und ihren krebsleidenden Bruder in das Sterben.

In derselben Zeit organisierte sie für ihren Pharmakonzern Kongresse, wofür sie ihre 40-Stunden-Woche oft schwer ausdehnen musste, und schaffte das Wunder, mir in unserer damals noch ganz jungen Beziehung eine liebevolle Aufmerksamkeit entgegenzubringen, die mich nicht im Geringsten spüren ließ, dass ihre Kapazitäten durch den verantwortungsschweren Beruf und die Pflege von Mutter und Bruder überstrapaziert sein mussten, sagt Lebensgefährte Mario Lang, Fotograf und Chor-Frontman des Augustin-Projekts. Das Wissen, die Gelegenheit versäumt zu haben, diesen Überschuss des Gebens zu würdigen, steht mit im Zentrum seiner Trauer.

Die Internetpräsenz des Stimmgewitter Augustin nennt Mario als eine der heimlichen Leistungen Tinas im Rahmen ihrer Solidarität mit dem Augustin. Deswegen und weil sie als empathische Kritikerin so gut wie kein Konzert versäumte, war ihr vom Stimmgewitter der Ehrentitel GROUPIE NR. 1 verliehen worden. Sie hat sich immer in die zweite Reihe gestellt, und im Rückblick erkenne ich erschrocken, wie oft ich Lorbeeren ernten konnte für Dinge, die in Wirklichkeit Resultate von Kooperationen zwischen Tina und mir waren, meint Mario. Tina hat ihr existenzielles Understatement, das frei von den üblichen Fishing-for-compliments-Intentionen war, ihre von keinerlei Selbstinszenierungsspuren entwertete Uneitelkeit nicht im Bewusstsein praktiziert, die ihr als Frau zugedachte gesellschaftliche Rollenteilung verinnerlicht und sich männlichem Machtverhalten untergeordnet zu haben. So hat auch Tina ihre Selbstzurücknahme individualisiert. Als ob sie das arabische Sprichwort Wenn das, was du zu sagen hast, nicht ebenso schön ist wie das Schweigen, sag es nicht zu ihrem Lebensmotto gemacht hätte, konnte sie schweigen, wo andere PR in eigener Sache gemacht hätten. Ihre Neigung, sich unsichtbar zu machen, blieb nicht unsichtbar, wie man bei ihrem Begräbnis im Esslinger Friedhof sah. Rund 250 Menschen folgten bewegt bis fassungslos ihrem Sarg.

Die Ironie des unbegreiflichen Schicksalsschlags: Tinas Tod trat am 13. des Monats ein und beendete eine Lebenspartnerschaft in ihrem 13. Jahr. Dazu muss man wissen, dass Tina sich zu den AktivistInnen der F13-Idee zählte. Es handelt sich um das Vorhaben, das Unglücksdatum Freitag, der dreizehnte, in einen Glückstag für Menschen, die sonst nichts zu feiern haben, umzumünzen. Wo immer sie jetzt ist: Tina wird nicht zum Aberglauben rund um diese mythologische Datumskombination regredieren. Im Gegenteil, wird sie sagen: Der 13. hat mir Glück gebracht. Ich konnte sterben, ohne zu leiden. Wäre ich zwei Wochen später gestorben, wer weiß, was ich hätte erdulden müssen. Man würde deutlich Tinas Augenzwinkern wahrnehmen können.