«Welche bedeutende öffentliche Einrichtung Ostösterreichs verfügt über eine eigene Autobahnabfahrt?
A) der Stephansdom
B) das Praterstadion
C) das Parlament oder
D) die SCS?»Ich bin auf einer Ruhebank im so genannten violetten Bereich der längsten Shopping Mall Österreichs mit Herrn Alfons ins Gespräch gekommen, obwohl er eigentlich wie er mir später erklärt Rapidler ist. Ins Gespräch gekommen ist vielleicht auch etwas übertrieben, eigentlich bin ich nur der mehr oder weniger zufällige Adressat seiner tiefschürfenden Monologe und rhetorischen Fragen. Während meine Arme von einigen, halb oder ganz gefüllten Einkaufssackerln, die ich als SCS-Greenhorn schon seit mehr als zwei Stunden durch die Mall mit mir herumschleppe, bereits ein, zwei Zentimeter länger geworden sind, trägt Herr Alfons nur einen verwaschenen blauen Trainingsanzug, der an frühere DDR-Weltmeister erinnert.
«Eine schöne Frage für eine der ersten Runden der Millionenshow», antworte ich vorsichtig.
«Für einen denkenden Menschen ist die Antwort natürlich genauso läppisch wie die Frage, aber Erstere zeigt doch ein wenig die Prioritäten in unserer Gesellschaft auf.»
Man merkt eben gleich, dass Herr Alfons von Beruf Philosoph ist, was aber in Zeiten wie diesen leider nicht mehr als die Grundsicherung einbringt. Gemeldet ist er daher, wie er mir erzählt, in einer winzigen Garçonnière mit Blick auf die Südautobahn, deren Miete das Sozialamt bezahlt, wohnt aber, um die Betriebskosten niedrig zu halten, wie er mir erklärt, von Montag bis Samstag in der SCS.
«Wissen Sie, was eigentlich das Prinzip des Handels ist?», fragt er auf einmal, «ich nenne es ja das sogenannte Merkurische Prinzip.»
«Da bin ich wohl etwas überfragt.»
«Vorigen Sommer hat ein reicher Russe bei einer Event-Agentur in Saint Tropez einen Kostenvoranschlag für ein großes, dickes, fettes Geburtstagsfeuerwerk eingeholt. Als der geforderte Betrag über 50.000 Euro lag, hat er sich bitter darüber beschwert, dass er im Jahr davor für die gleiche Leistung viel weniger bezahlen hätte müssen. Es stellte sich heraus, dass dem Russen damals von einer anderen Agentur das öffentliche Sommer-Feuerwerk der Stadt Saint Tropez als sein höchstpersönliches Geburtstagsvergnügen verkauft worden war.»
«Ehrlich?»
«Irgendwann einmal wird der Handel überhaupt nur mehr Emotionen verkaufen. In dieser Hinsicht war die erste, keineswegs betrügerische Agentur nur Avantgarde, also Vorreiter», meint Herr Alfons.
«Na ja», setze ich meinerseits zu einem Statement an, aber da ist Herr Alfons schon einen Gedankensprung weiter.
«Mit ein wenig Phantasie ist es wie auf den Malediven»
«Meinen wohlverdienten Sommerurlaub verbringe ich immer in der Blauen Lagune. Wenn man ein wenig Phantasie hat, wenn man also die Augen schließt und sich vorstellt, die Südautobahn stünde unter Wasser, ist es wie auf den Malediven!»
Zu solchen herausragenden kognitiven Leistungen bin ich momentan nicht mehr so ganz fähig. Ich war auf den beiden Ebenen der Mall unter anderem an 72 Bekleidungsgeschäften, 18 Schuhläden und 12 Handyshops vorbeimarschiert. Das Einkaufszentrum, das ich als einziger Niederösterreicher, Wiener, Burgenländer und Ungar überhaupt noch nie betreten hatte, schien vorne und hinten kein Ende zu haben. Bei «Nordsee» hatte ich mich mit einem Flusskrebs-Weckerl gestärkt. Nach einem weiteren Kilometer Shoppen in den Beinen hatte ich mir einen «Coffee-to-go» gegönnt, der mit dem Slogan «You never walk alone» beworben wurde. Das wäre aber auch eine ziemliche Kunst, dachte ich, allein in der SCS herumzuspazieren, selbst an einem Mittwochnachmittag.
«Ist es nicht irgendwie symptomatisch, dass es hier sechzig, siebzig Fetzengeschäfte, aber nur eine einzige Buchhandlung gibt? Sagt das nicht einiges über unsere angebliche Wissens- und Informationsgesellschaft aus?», wirft Herr Alfons eine geradezu bildungsbürgerliche Frage auf.
Aus irgendwelchen Lautsprechern ertönt plötzlich eine ruhige, professionell-gelangweilte Durchsage: «Die Eltern vom kleinen Steven bitte in das Kinderparadies.»
Selbst wenn ich ein Elternteil vom kleinen Steven wäre, ich wüsste auf Anhieb nicht, wo ich ihn abholen sollte, zu gigantomanisch scheint mir diese ganze Shopping City Süd mitsamt SCS-Park, Blauer Lagune, Pyramide usw. zu sein. 330 Shops und 225.000 Quadratmeter Verkaufsfläche all das spüre ich mittlerweile in meinen Füßen. Nicht einmal das dreifärbige Orientierungssystem in der Mall violett, grün und altrosa habe ich bisher gänzlich durchschaut. Mit «Kinderparadies», überlege ich, ist wohl kein abstrakter Begriff gemeint, sondern wahrscheinlich nur ein großes, halbwegs zentral gelegenes Spielzeuggeschäft, wo verloren gegangene Kundenkinder taxfrei abgeholt werden können.
«Dieser Steven dürfte wirklich verloren gegangen sein. Auf jeden Fall ist er wohl kein sehr schlaues Kind. Der Elias von gestern war da eindeutig cleverer, die entsprechende Durchsage lautete: Die Eltern vom kleinen Elias bitte mit Kreditkarte in das Kinderparadies.»
«Ehrlich?»
Die Gehsteigfrage
In Vösendorf, so heißt es, sind sie sich noch immer nicht ganz im Klaren darüber, ob sie die Gehsteige nur versilbern oder besser gleich vergolden lassen sollen. Grund dafür ist natürlich die SCS, genauer gesagt, die Lohnsummensteuer der dort beschäftigten rund 4500 Mitarbeiter, die an die reichste niederösterreichische Gemeinde abzuführen ist. Die SCS ist ein Kind der hoffnungsfrohen, hofflungslos amerikanisierten Siebzigerjahre. Inzwischen hat die niederösterreichische Landespolitik neuen Einkaufszentren auf der grünen Wiese einen strukturkonservativen Riegel vorgeschoben. In diesem Bundesland wird es keine zweite Shopping City mehr geben.
«Wer braucht schon einen Ferrari 430 Scuderia, Kaviar mit Vitamin-Zusatz oder ein Handy mit integriertem Lippenstift?», meldet sich Herr Alfons wieder.
Brauchen ist gut, denke ich.
«Mein Weg bringt es wohl mit sich, dass ich ihn alleine gehen muss», fährt der SCS-Philosoph fort. «Wenn ich mich manchmal sehr, sehr einsam fühle, dann stelle ich mich vor die Auslagen der Beate Uhse und sehe mir die mit Velours gefütterten Handschellen For Lovers Who Really Care an. Allerdings bin ich in dieser Hinsicht ein wenig konservativ, manches geht mir dann doch zu weit, etwa das bestimmte weibliche Körperteil aus rosa Plastik, das auch noch den unappetitlichen Markennamen The Clone trägt.»
«Auch wenn die wirkliche Attraktion der SCS», verabschiede ich mich von Herrn Alfons, «eindeutig Sie sind, muss ich mich jetzt doch aufmachen, um auf irgendeinem der 10.000 SCS-Parkplätze meinen Wagen wieder zu finden.»
«Suchen Sie lieber Ihre Mitte», rät mir Herr Alfons abschließend, «da haben Sie letztlich mehr davon.»