Sonderling und SalondameArtistin

Wie viel Nähe braucht ein Mensch, um glücklich zu sein? Und wie viel Abstand zu allen anderen, um die Welt zu verstehen? Ana Marwan begleitet in ihrem Debütroman einen Außenseiter an die Grenze freiwilliger Einsamkeit.

Text: Helmut Neundlinger, Foto: Daška Bráciníková

«Seit seiner Kindheit war die Vorstellung, ausgelacht zu werden, eine der schlimmsten, die ihn verfolgten», heißt es in Ana Marwans Roman Der Kreis des Weberknechts (Otto Müller Verlag 2019) über die Hauptfigur Karl Lipitsch. «Er dachte, er würde sich im fremden Lachen als Mensch auflösen.» Es sind gerade diese knappen Informationen, die das Selbstexperiment des Protagonisten nachvollziehbar machen. Schon zu Schulzeiten den anderen Menschen gegenüber fremdelnd, beschließt er eines Tages, sich gänzlich zurückzuziehen und an einer «ontologischen Theorie» zu arbeiten, um das Sein in seiner reinen Form zu ergründen. Gesellschaft erlebt Lipitsch hauptsächlich als «Urteil», um es mit dem viel diskutierten französischen Autor Didier Eribon zu sagen: als Zuschreibung, die dem Einzelnen eine Form von Anpassung abverlangt und ihn einem Blick von außen unterwirft, der im Inneren eine tiefe existenzielle Scham auslöst.

Frei, unklar, unverbindlich.

«Man muss Extreme ausprobieren, um einen ‹modus vivendi› in der Gesellschaft zu finden», sagt die 1980 in Slowenien geborene Schriftstellerin Ana Marwan über das Entstehen ihrer in vielerlei Hinsicht unzeitgemäßen Romanfigur Lipitsch. Schon als Kind habe sie alte und vermeintlich seltsame Bücher am liebsten gelesen, unter anderem Madame Bovary von Gustave Flaubert. Als Teenagerin sei es ihr schwergefallen, jene Sprache zu benützen, die unter ihren Gleichaltrigen als angesagt galt. «Ich habe vorsätzlich ordinäre Wörter benützt, um mitzuhalten, lag aber meistens daneben. Ich konnte das nie», erzählt sie und erinnert sich im Gespräch an eine Kindheitsfreundin, die in der Lage war, sich fremde Dialekte innerhalb einer Woche perfekt anzueignen. Eine solche Höchstleistung an Assimilation nötigt ihr eine Mischung aus Respekt und Unbehagen ab. «Wir leben in einer freien Zeit, ohne klare Muster und Vorgaben und ohne verbindliche Initiationsrituale», sagt Marwan. Zugleich gebe es eine gesteigerte Erwartungshaltung in Sachen Erfolg, Glück, sozialem Aufstieg. Die scheinbar unüberblickbare Zahl an Möglichkeiten verwirrt, anstatt zu befreien.

Hintertür ins Herz.

Die Perspektive des verschrobenen Außenseiters, die Ana Marwan in ihrem Roman mit virtuoser sprachlicher Ironie einnimmt, stellt Lipitsch in eine illustre Genealogie literarischer Sonderlinge, die sich den Geheimnissen sozialer Interaktion über den freiwilligen Rückzug nähern. Literatur «behandelt stets Ausnahmefälle», schreibt der Literaturwissenschaftler Hans Mayer in seiner großen Studie über Außenseiter (1975) und legt darin dar, inwiefern gerade der Ausnahmefall die sogenannte Normalität permanent in Frage stellt. Ana Marwans Lipitsch ist selbst in dieser Tradition noch ein absolut besonderer Fall: Er scheitert nicht zuletzt an seinem Verlangen nach Eindeutigkeit, dem allerdings ständig die Widersprüchlichkeit des Lebens in die Quere kommt.
Wenig überraschend ist es eine Frau in Gestalt seiner Nachbarin Mathilde, die das Projekt seiner freiwilligen Selbstisolation mit höchst uneindeutigen Signalen in Gefahr bringt. Sie inszeniert sich als eine Art Salondame der Lindenstraße, in der beide wohnen. Lipitsch vermutet, dass sie genau jene gesellschaftlichen Ereignisse als Bühne für ihre Selbstinszenierung braucht, von denen er als freiwilliger Eremit sich zurückgezogen hat. Allmählich werden aber auch an ihr die Wunden und Vorbehalte spürbar, die frühere Begegnungen in ihr hinterlassen haben. «Ich bin in jeder Lebenslage schön, auch wenn vor mir ein Toter liegt», heißt es einmal in knappstem Sarkasmus über den von außen über sie gestülpten goldenen Käfig an Erwartungen.
Über Wochen und Monate umtanzen sich die beiden wie irrlichternde Kometen, ohne einander jemals ganz nahe zu kommen. Ana Marwan begleitet diesen Tanz mit einer Sprache, die weit von narrativen Mustern der Gegenwart ist und dennoch einen Sog entwickelt, der gerade das Wunderliche dieser Prosa unmittelbar plastisch macht. Ein Hauptmerkmal liegt in der grandios komischen und zugleich höchst klugen Auslotung jener Gedankenkonstrukte, die sich die beiden Hauptfiguren wechselseitig voneinander machen. In den Belauerungen und Lockungen entwickelt sich jenes subtile Stellungsspiel, dem der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich den schönen Titel «Geschlechterspannung» verliehen hat. «Es machte Mathilde traurig, dass Lipitsch so traurig wirkte», heißt es an einer Stelle. «Sie wollte ihn in die Arme nehmen, streicheln, stillen.» Auf fliegendem Fuß folgen allerdings die erfahrungsgetränkten Bedenken: «… hüte dich vor dem Mitleid, Mathilde, du weißt ganz genau, dass das die Hintertür in dein Herz ist.»

Im Nachhinein witzig.

Dass so viel Vor-Lustangst kein Happy End kennt, sei an dieser Stelle mehr angedeutet als verraten. Vielleicht liegt in der erzählerischen Aufspaltung in diese zwei radikalen Pole gesellschaftlicher Anziehung und Abstoßung auch eine Art von Verarbeitung jener Arbeitsverhältnisse, in denen sich die Autorin bewegte, bevor ein bewusster Schlussstrich den Raum für die Arbeit am Text schuf. «Irgendwann habe ich mich gezwungen zu kündigen, weil ich gemerkt habe, dass ich zehn Jahre in Wien einfach verschlafen habe», resümiert Marwan jene Serie an Jobs, die sie seit ihrer Ankunft in Österreich im Jahr 2005 hatte. «Ich empfand es lange als mein Schicksal, dass ich irgendwo angestellt worden und dann dort gesessen bin. Oft genug war es kafkaesk.» Sei es im Rahmen ihres Praktikums im Verkehrsministerium während der der EU-Ratspräsidentschaft 2006 mit vielen Sitzungen in Brüssel, in denen sie eigentlich keine Ahnung hatte, worum es genau ging, sei es ihr Engagement als Fußballreporterin für den Sender Sport1, als sie über Champions-League-Spiele für den slowenischen Markt berichtete, oder der Job bei einem Wettanbieter. «Die anderen hatten über fünfzig E-Mails pro Tag als Output, ich lag bei zwei. Aber ich war sehr beliebt in der gemeinsamen Kaffeeküche.»
Wenn Ana Marwan erzählt, bricht immer wieder jene lakonische Verschmitztheit durch, die auch ihren Roman durchzieht. Das gilt nicht zuletzt für ihre Erzählungen aus der Kindheit im Tito-Sozialismus Jugoslawiens und dem zehntätigen Krieg im Jahr 1991, der das Ende der Föderativen Republik sowie die Unabhängigkeit Sloweniens besiegelte. «Im Nachhinein erscheint einem vieles witzig», sagt Marwan. «Es ist vergleichbar mit dem Militärdienst: Jeder leidet, aber nachher gibt’s die lustigsten Geschichten.» Der Sirenenalarm traf sie und ihren Bruder unvorbereitet beim Cartoon-Schauen. Die Mutter kam mit gepackten Koffern ins Zimmer und nahm die Kinder mit in den Keller. «Ich hatte das Gefühl, dass ich gar nichts mitbekomme. Im Keller selbst war ich schockiert, wie vorbereitet die Leute waren, mit ihren Betten und dem Essen. Sobald alle ausgepackt hatten, gab es ein Riesenessen. Eigentlich hatten wir dort unten richtig Spaß.»
Ana Marwan blendet in der Erzählung solcher Episoden nie die Unheimlichkeit aus, die darin zum Ausdruck kommt. Die Gratwanderung zwischen dem Komischen und dem Tragischen zieht sich nicht zuletzt durch den Selbstversuch, den ihr Protagonist Lipitsch auf sich nimmt, um die Frage nach dem Verhältnis von Autonomie und Gesellschaft zu klären. «Lass uns Fremde bleiben», beschwört er Mathilde einmal innerlich, als es noch nicht zu spät ist. Was für ein Motto für diese Beinahe-Freundschaft!

Ana Marwan:
Der Kreis des Weberknechts
Otto Müller Verlag 2019, 196 Seiten
22 Euro

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