Sozialer Gradmesser Thermostattun & lassen

Immo Aktuell

Wer wegen Corona in der Wohnung bleiben muss, hat höhere Energiekosten zu tragen. Tragfähige politische Maßnahmen gegen drohende Energiearmut sind bislang nicht vorgesehen.

Text: Mareike Boysen
Illustration: Much

Eine so logische wie zynische Begleit­erscheinung jeder Reduktion außerhäuslicher Beschäftigung – sei es aufgrund von Ausgangsbeschränkungen, Homeoffice, Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit – ist, dass der private Energieverbrauch steigt. Wer sich mehr zu Hause aufhält, hat dort in der Regel einen höheren Bedarf an Strom und, je nach Jahreszeit, an Heizenergie. So geben die Wiener Netze für die sieben Wochen des ersten Shutdowns im März und April zwar einen industriebedingten Rückgang des Gesamtstromverbrauchs von 15 Prozent an. Der Verbrauch der Privathaus­halte habe sich aber um 25 bis 30 Prozent erhöht.
Dass knapp 23 Prozent der Erwerbstätigen, die laut Statistik Austria coronabedingt zum Arbeiten nach Hause geschickt wurden, dort häufiger Computer, Herd und Backrohr zum Einsatz bringen mussten, ist problematisch genug. Doppelt hart traf es aber jene mindestens 58.900 Personen in Wien – österreichweit waren es mindestens 188.000 –, die in der Pandemie ihren Job verloren. Für das Zusammentreffen von niedrigen Haushaltseinkommen und einer hohen individuellen Belastung durch Energiekosten hat sich der Begriff der Energiearmut etabliert. Diese zu bekämpfen, ist seit 2010 für alle EU-Mitgliedsstaaten expliziter politischer Auftrag.

Aufgeschoben statt aufgehoben.

Nun ging Österreich, Weltmeister des österreichischen Weges, diesen sogar zu einem Zeitpunkt, als die Coronakrise bereits als größte europäische Wirtschaftskrise seit Ende des Zweiten Weltkriegs ausgerufen worden war. Um weiterhin die Energieversorgung von Haushalten und Kleinunternehmen zu gewährleisten, vereinbarte die zuständige Ministerin Leonore Gewessler Ende März mit den Verbänden eine Aussetzung von Mahnverfahren sowie von Strom- und Gasabschaltungen. Allerdings traf diese Vereinbarung, die bis Ende Juni galt, weder Nah- und Fernwärmeunternehmen noch war sie für irgendeinen Anbieter verbindlich.
Der Energieaufsichtsbehörde E-Control, die für das Monitoring der Umsetzung zuständig war, wurden von denjenigen Verteilernetzbetreibern und Lieferanten, die wiederum freiwillig Angaben übermittelten, für den Zeitraum April bis Juni lediglich 559 Strom- und 175 Gas-Abschaltungen gemeldet. In 10.906 bzw. 3.527 Fällen sei von Abschaltungen abgesehen worden; allein für den Bereich Strom wurden rund 24.000 Reduktionen von Teilzahlungsbeträgen, 19.000 Stundungen und 7.000 Ratenzahlungsvereinbarungen gemeldet. Wien Energie gibt an, zwischen Mitte März und Ende Juni fünfmal so viele offene Forderungen wie im Vergleichszeitraum des Vorjahres verbucht zu haben.
Während diese Zahlen vor allem zeigen, dass sich in der wirtschaftlichen Unsicherheit der Coronakrise eine deutlich gestiegene Anzahl an Menschen nicht mehr in der Lage sah, ihre Energierechnungen zu begleichen, sind deren Probleme nicht behoben, sondern vertagt worden. Im Juli und August, also nach Ablauf der Vereinbarung, wurden mindestens 2.688 Stromabschaltungen vorgenommen. Stromlieferanten verschickten nach Selbstauskunft über 56.000 letzte Mahnungen und lösten über 7.000 Verträge auf.

Eine Frage der Effizienz.

Für sogenannte Härtefälle verweist Wien Energie auf die ins Unternehmen integrierte Sozial-Ombudsstelle, die in Zusammenarbeit mit karitativen Organisationen sicherstelle, «dass die Menschen auch in angespannten Situationen ein warmes Zuhause haben». E-Control erinnert derweil daran, dass sich GIS-befreite Haushalte mittels Formular die Ökostromförderkosten sparen könnten. Bezieher_innen von Mindestsicherung und Mindestpension steht frei, bei der MA 40 ein Ansuchen um Energieunterstützung zu stellen, auf die es allerdings keinen Rechtsanspruch gibt. Zwischen Jänner und Oktober dieses Jahres sind 11.700 solcher Ansuchen eingegangen.
Alles politisch zu kurzsichtig, zeigen zwei durch die Soziolog_innen Karl-Michael Brunner, Anja Christanell und Sylvia Mandl zwischen 2008 und 2014 in Wien und Vorarlberg durchgeführte Forschungsprojekte. Nicht nur könne Energie­armut auch einkommensstärkere Haushalte treffen, resümierten sie, sondern die Inanspruchnahme von Sozialleistungen werde außerdem in vielen Fällen durch Schamgefühle verhindert. Haushalte, in denen Sparen als Lebensmaxime gelte, zeigten daher sehr oft einen geringeren Energieverbrauch, als es mentale und körperliche Gesundheit erforderten. Laut der Europäischen Gemeinschaftsstatistik SILC konnten sich im vorigen Jahr 159.000 Personen in Österreich nicht leisten, ihre Wohnungen angemessen warm zu halten.
Eine der nachhaltigsten Maßnahmen zur Bekämpfung von Energiearmut wäre die Sanierung von energieineffizienten Gebäuden und Wohnungen. Bei einem Altbauanteil von, je nach Bezirk, 15 bis 72 Prozent ist dies langfristig insbesondere in Wien von Relevanz. Kurzfristig sind angesichts des zweiten Lockdowns längst sinnvolle Krisenmaßnahmen gefragt wie etwa die Einrichtung einer schnell verfügbaren Energieunterstützung, die nicht den Bezug von Sozialleistungen voraussetzt. Zumal der schlimmste Part den Betroffenen noch bevorsteht: die Jahresabrechnung.