«Wer hört Jugendlichen wirklich zu?»tun & lassen

Einsamkeit und Kränkung in der Jugend sind schlechte Voraussetzungen für ein gewaltfreies Leben. Über toxische Männlichkeit, unterversorgte Buben und die Verantwortung, die Erwachsene für Kinder tragen, spricht der Pädagoge und Jugendarbeiter Philipp Leeb.

Interview: Eva Maria Bachinger
Foto: Carolina Frank

Ein 20-jähriger Österreicher verübt mitten in Wien einen terroristischen Anschlag. Was fehlt Buben und jungen Männern auch in einer «lebenswerten Stadt» wie Wien, damit sie zufriedene, nicht gewalttätige Erwachsene werden können?
Philipp Leeb: Es ist nicht lokal gebunden, wo Personen Anschläge machen. Das ist fast überall in Europa möglich. Menschen muslimischen Glaubens stellen eine Minderheit im christlichen Abendland dar, sie machen Diskriminierungserfahrungen genauso wie etwa jüdische Jugendliche. In Wien gibt es jedenfalls ein stetiges Auftreten gegen Muslime. Jugendliche rutschen oftmals in eine sogenannte toxische Männlichkeit hinein, aus unterschiedlichen Gründen, sei es durch Gewalt in der Familie oder durch falsche Freunde. Toxische Männlichkeit ist ein bisschen ein Modebegriff geworden, aber es ist ein Entwurf von Männlichkeit, der destruktiv, gesundheitsschädigend, selbstzerstörerisch ist. Gekränkte Männlichkeit, jugendliche Enttäuschung trifft auf politische Extremisten, auf jemanden, der sagt, ich verstehe dich, räche dich an der Gesellschaft, schlag zu. Im Islam kommt man dafür auch noch ins Paradies. Es sind Heilsversprechen, die gewaltbezogen und gewissermaßen auch absurd sind, aber für Jugendliche sehr attraktiv. Dazu kommen mediale Bilder der Gewalt, die heute sehr wirkmächtig sind, schon in der Volksschule. Es ist für Jugendliche attraktiv, Gewaltbilder zu imitieren, Masken aufzusetzen, um ihre Unsicherheiten und Ängste zu überdecken. Es braucht viel Beziehungsarbeit, damit sie die Maske ablegen. Da sind wir beim Punkt: Was brauchen Jugendliche? Sehr viel Beziehung, Zuwendung, Liebe, Zuhören. Wir wissen das seit hundert Jahren, trotzdem gelingt es uns nicht, Kinder und Jugendliche aufzufangen. Es hat viele Gründe, etwa ökonomische. Erwachsene arbeiten viel und haben wenig Zeit, die Versorgung der Kinder wird ausgelagert.

Wie können Sie und Ihre Kollegen die Jugendlichen in Seminaren erreichen? Schließlich ist hier offenbar eine große Lücke, es fehlen wichtige Bezugspersonen.
Wir fragen viel und geben keine Antworten. Das sind sie nicht gewohnt, sie bekommen immer Antworten von Lehrern, Eltern, vom Internet. Wer hört Jugendlichen aber wirklich zu? Wir sind an ihnen interessiert, wir fragen sie, was sie denken. Und wir sind da, wir gehen nicht weg, auch wenn es Konflikte gibt. Mir ist es lieber, sie schreien mich im Workshop an oder gehen mich sogar handgreiflich an, als dass sie das bei anderen tun. Da keiner Zeit für sie hat, tauchen sie in Chats, Foren ein. Es ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie dort auf Extremisten treffen. Eines der Tore ist etwa auch die Pornografie. Wenn man sich dort vertieft, kommt man ganz schnell auf rechtsextreme oder jihadistische Foren. Die meisten Erwachsenen schauen da nicht hin.
Jugendliche sind heute fast wie über eine Nabelschnur mit dem Smartphone verbunden. Wie kann man dagegenhalten?
Durch Medienkompetenz. Sie wachsen mit diesen Medien auf, aber sie müssen lernen, damit umzugehen. Es ist die Aufgabe der Eltern, einzuordnen, zu limitieren, Dinge zu besprechen. Viele Eltern sind aber froh, dass die Kinder ruhig sind, weil sie andere Probleme haben. Doch wir sind verantwortlich für die Kinder.

Warum antworten auf Benachteiligung nicht auch andere Gruppen mit Terror, sondern derzeit vor allem Muslime? Die 9/11-Attentäter waren zum Beispiel auch gut gebildet. Ist die Ideologie des politischen Islam hier auch entscheidend?
Natürlich, das kann man nicht ausblenden. Aber die Verantwortung liegt bei Erwachsenen, nicht bei Kindern und Jugendlichen. Sie erleben Kränkungen und Benachteiligungen, in dieser Situation treffen sie auf Extremisten. Die Weltbilder werden von Erwachsenen, von Vätern, Onkeln, älteren Freunden gefüttert.
Wenn Jugendliche in der Schule immer auf ihre Herkunft abgestempelt werden, obwohl sie hier geboren sind, beschäftigen sie sich mit ihren Wurzeln, mit ihrer Identität. Sie stoßen auf kulturelle Zerrissenheit, nationalistische, religiöse Ideologien, das vermischt sich mit popkultureller Verherrlichung von Gewalt. Ein Freund bringt sie vielleicht zu einer radikalen Moschee. Dort ist jemand, der zuhört, der Beziehung und Zugehörigkeit bietet.

Sehen Sie bei der Arbeit mit Jugendlichen Unterschiede? Sind Religion, Herkunft relevant?
Herkunft ist immer relevant, was mich prägt, die Kultur, Religion, Familie. Je nachdem wie man begleitet wird, ist das sichtbar oder weniger sichtbar. Die Lauten fallen auf, diejenigen, die Allahu Akbar schreien oder den rechten Arm heben, die große Mehrheit fällt nicht auf. Die Wortführer brauchen Unterstützung. Sie sind so laut, weil es einen Grund dafür gibt.
Es gibt noch eine andere Art von Terror, nämlich massive psychische Gewalt im Alltag, in der Schule. Dass es ein Jugendlicher schafft, den Unterricht zu sprengen und Lehrer komplett zu überfordern. Wir schauen dorthin, wo Leute erschossen werden, und nicht dorthin, wo Menschen langfristig leiden. Diese Jugendlichen möchten in Beziehung treten, schaffen es aber nicht, weil sie vor allen das Gesicht verlieren würden, und dann gehen sie an Grenzen. Es hat auch nichts mit Bildung oder Schicht zu tun, eine gekränkte Seele ist eine gekränkte Seele. Es geht also vor allem um eine narzisstische Kränkung, die dazu führt, dass ein Mensch eine schreckliche Tat begeht. Diese psychoanalytische Ebene wird gerne in medialen Diskussionen weggewischt, wir reden von Extremisten, Hintermännern, Netzwerken. Wir schaffen es aber nicht, den Menschen in Schutz zu nehmen, ihn von klein auf zu begleiten, dass er gar nicht auf solche Ideen kommt. Das ist eine wesentlich wichtigere Diskussion. Aber da geht es um Ressourcen, um grundsätzliche Änderungen in einer kapitalistischen Gesellschaft, nämlich Eltern zu ermöglichen, ihre Kinder gut großzuziehen. So wie wir unsere Welt zurichten, mit Überkonsum, Inszenierung, Selbstdarstellung, so richten wir unsere Kinder zu.

Gibt es grundsätzlich genug finanzielle Unterstützung für Ihre Arbeit?
Wir haben oft nicht die personellen Kapazitäten, um alle Anfragen berücksichtigen zu können. Wir haben genügend Trainer, die aber selbstständig arbeiten und nicht immer Zeit haben. Um sie anstellen zu können, fehlt uns das Geld. Wir werden von der Stadt Wien unterstützt, vom Bildungsministerium bekommen wir Förderungen für Workshops an den Schulen. Es wird aber oft zu wenig auf die vorhandene Expertise zurückgegriffen, und vorhandene Strukturen werden nicht ausreichend unterstützt und ausgebaut. Es gibt nur ein Männergesundheitszentrum in Wien, in ganz Österreich. Es ist auch wesentlich, das Personal in den Schulen zu unterstützen, damit es nicht überfordert ist, sondern glücklich. Gute Lehrer können sehr viel Beziehung schaffen, viel Orientierung geben, wenn etwa die Eltern auslassen. Ich bin verärgert, dass wir gerade jetzt wegen Corona an den Schulen Betretungsverbot haben. Wer arbeitet das nun alles auf, die Verstörung durch den Terroranschlag, durch den Corona-Lockdown? 

Philipp Leeb ist Gründer und Obmann von poika, Verein zur Förderung gendersensibler Bubenarbeit.

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Selbstlaut, Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder
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