Max Kaufmann, Leiter des Wiener Theatervereins Odeon, Erfinder eines Lkw-Kinos und Filmemacher, ist vor allem anderen ein Künstler der Improvisation. Eine Milieu-Studie.
TEXT: MAREIKE BOYSEN
FOTOS: NINA STRASSER
Den positiven Ausgang des letzten Belastungstests bestätigt Max Kaufmann mit einem zufriedenen Nicken. Die beiden Spanngurte, mit denen er seine sperrige Fracht, einen etwa zwei Meter langen und einen Meter zehn breiten, mit weißem Stoff bespannten Holzrahmen, auf dem Dach seines 30-jährigen Volvos montiert, haben schon ganz andere Aufgaben gemeistert. Ob der Rahmen im Fahrtwind brechen könnte? Max Kaufmann winkt ab. «Der ist stabil. Den habe ich selbst gebaut.»
Im Hinterhof des Wiener Odeon Theaters in Leopoldstadt, in dem Kaufmann, seit März Obmann und künstlerischer Leiter, sein Büro hat, ist damit alles für die Abfahrt bereit. Das Ziel der vierköpfigen Reisegesellschaft: Kaufmanns künstlerisches Herzensprojekt, ein zum Kino umgebauter Lkw, der vor einigen Wochen auf einem ungenutzten Rasengelände in der Nähe von Schwechat seinen neuen Stehplatz gefunden hat. In Wien herrsche Lkw-Parkverbot, erklärt Kaufmann. «Und wenn wir schon rausfahren, können wir gleich die Leinwand mitnehmen.»
Die Karosserie des Volvos dröhnt, als Kaufmann auf der Bundesstraße beschleunigt. Nicht nur das Auto, sondern auch der B-Führerschein sei ein Nebenprodukt seiner zwölfjährigen Arbeiten am Lkw, der inzwischen den Namen Milieu-Kino trägt, erzählt er. 2010 bei einem Schrotthändler in Berlin erworben, sei der Lkw nach Wien überstellt worden und Teil der Wagengruppe Treibstoff geworden, mit der Kaufmann damals unterwegs gewesen sei. «Mit der Unterstützung von Leuten, die sich damit auskennen, eignet man sich nach und nach an, was man reparieren muss», erklärt er.
Expertise und Zeit habe er zu Beginn zwar zur Verfügung gehabt, aber kaum Geld für Ersatzteile. Heute, sieben Wochen vor der angekündigten Eröffnung am Praterstern, sei das Kino «zu 98 Prozent» fertig. «Es fehlen überall Details: Der Antonio und der Cyrill bauen gerade die Lüftung ein, die Treppen brauchen rutschfeste Matten, es gehören Kabel verlegt und Lichter verkleidet, der analoge Projektor –.» Während Kaufmann aufzählt, schlagen die Gesetze der Physik auf dem Autodach mit einem Knall zu. «Ah! Scheiße! Fuck, fuck, fuck, fuck, fuck! Okay?», sagt Kaufmann.
Umweg ins Nirgendwo
Eine Inspektion an der nächstgelegenen Tankstelle sorgt für Gewissheit: Der über die Windschutzscheibe hinausragende Teil des Holzrahmens ist abgebrochen und hat sich, da durch den Stoff mit dem Rest verbunden, sauber zurückgefaltet. Den Rahmen neu zu bauen, sei das geringste Problem, sagt Kaufmann, Sohn der Odeon-Gründer:innen Ulrike Kaufmann und Erwin Piplits. «Das ist der Vorteil, wenn man am Theater aufwächst: Da kann man alles Handwerkliche lernen.» Was aber tun mit der demolierten Leinwand? Stehen lassen und später mit einem größeren Pkw abholen? Oder wieder auf dem Dach festzurren und eine Alternativroute durch 50er-Zonen finden?
«Ich kenne mich wieder aus. Wir sind gleich da», sagt Kaufmann, über dessen Kopf ein roter Spanngurt durchs Wageninnere verläuft, etwa eine halbe Stunde später. Im kulturellen Nirgendwo des Wiener Speckgürtels, auf das gerade ein Passagierflugzeug hinabsinkt, kommt Kaufmann auf einem Schotterweg zum Stehen. Der blau-graue Lack, den das Milieu-Kino am Wochenende erhalten hat, spiegelt die benachbarte OMV-Gasanlage. «Ist ja wurscht. Spaxen wir’s erst mal hin», sagt Kaufmann zu den Kollegen, die mit der Lüftung fertig sind und nun die Leinwand begutachten. Irgendwie hat wieder alles funktioniert.
Abwegige Orte
Nicht nur der vorgeführte Hang zur Improvisation, auch der Durchfahrtscharakter des Schauplatzes ist bei Max Kaufmann künstlerisches Programm. Mithilfe des Lkws wolle er Kino dorthin bringen, «wo man es nicht erwartet. Das Milieu-Kino fährt ins Milieu jeder Art.» Dabei seien seine räumlichen Beschränkungen nicht als Nachteil zu sehen, erklärt Kaufmann: Die 15 Sitze im Inneren – sie stammen aus den Lagerbeständen eines Freundes – entsprächen der Besucher:innenanzahl, die Programmkinos seiner Erfahrung nach im Schnitt heute anzögen. Für Sichtbarkeit im öffentlichen Raum soll die orange Leuchtschrift am Dach sorgen, die sich aufstellt, wenn man die Ladebordwand händisch hinabzieht. «Das muss man schmieren. Wahnsinn!», ruft Kaufmann, der den Mechanismus vorführen will und sich dafür an einen der riesigen metallenen Füße gehängt hat.
Hinter der Ladebühne offenbaren sich schließlich die noch zu lackierende Bar und der Vorführraum, dem der Projektor fehlt. «Gerade so?» Kaufmann hat in einem der drei Schaukästen an den Lkw-Außenseiten das Plakat zum ersten Film angebracht, den das Milieu-Kino zeigen wird: Vor einem dichten dunklen Hintergrund steigt eine graue Taube aus einem verlassenen Herrenanzug empor. Übertitelt ist sie mit: Sine Meta Drom.
Als «ziellosen Weg» übersetzt Kaufmann den Filmtitel. Wie bei den Theaterproduktionen fürs Odeon handelt es sich auch hierbei um eine Gemeinschaftsarbeit des Serapions-Ensembles. «Wir sind sehr im Moment, arbeiten impulsorientiert. Man hat eine Grundidee und improvisiert darauf», erklärt er. Wenn auch die letzten Entscheidungen hier wie dort bei ihm lägen. Im Fall von Sine Meta Drom, einer Montage aus Realfilm- und Stop-Motion-Anteilen, die ausschließlich im Innen- und Außenbereich der Station Praterstern und in einem 1:7-Modellnachbau gefilmt und fotografiert worden ist, hat sich die Grundidee für Kaufmann während einer S-Bahn-Fahrt manifestiert. «Ich habe damals Leute in einem Gespräch sagen hören, dass sie sich nicht mehr am Praterstern auszusteigen trauen. Wenn sie zum Wurstelprater fahren, machen sie lieber einen Umweg.»
Absurd findet Kaufmann diesen Kontrast zwischen einer über Jahre medial geschürten Angst vor der (inzwischen kriminalisierten) Drogen-, Alkoholiker:innen- und Prostitutionsszene und den Adrenalinräuschen, für die Geisterbahn- und Karussell-Besucher:innen nur einige hundert Meter entfernt Geld zu zahlen bereit sind. Die Idee zu einer Reihe ortsgebundener Milieu-Filme, die wiederum am Ort ihres Entstehens vorgeführt werden und unter denen Sine Meta Drom der erste ist, habe Kaufmann schon lange mit sich herumgetragen. «Ich wollte immer Filme machen, aber ich brauche einen kleinen Zwang, einen Premierentermin zum Beispiel, um etwas umzusetzen.»
Das Taubenproblem
So hat das Milieu-Kino für Kaufmann als Selbstdisziplinierungsmaßnahme begonnen. «Ich habe mir überlegt: Wenn man sich ein Kino baut, das richtig schick ist, hat man die Verpflichtung, es anspruchsvoll zu füllen.» Bis zur Eröffnung am 15. Dezember mit Sine Meta Drom hat er sich neben allem anderen vorgenommen, 90 Minuten Filmmaterial auf etwa eine Stunde zusammenzuschneiden. «Außerdem», sagt Kaufmann mit Blick aufs Filmplakat, «haben wir noch keine einzige Taube gedreht.»
Als Kaufmann schon zur Rückfahrt nach Wien aufbrechen will, lässt ihn ein konstantes Zischen, das aus der Fahrer:innenkabine des Lkws zu kommen scheint, aufhorchen. Der Schlauch in der Luftfederung des Fahrersitzes sei porös, erklärt er, nachdem er das Problem behoben hat. «Er war mit einem Kabelbinder abgeklemmt, der sich gelöst hat. Den habe ich wieder festgezogen.» Erst einmal wird es halten.
Milieu-Kino
Filmvorführungen: Sine Meta Drom
Krankheitsbedingt ist die Eröffnung auf 27.12. verschoben (ursprünglich 15. bis 31. Dezember)
2., Praterstern
Tickets: 12 bis 17 Euro
www.milieu-kino.net