«Nie einen Berg gesehen»vorstadt

Lokalmatadorin

Judith Kohlenberger forscht zu unserem ambivalenten Umgang mit Geflüchteten.

TEXT: UWE MAUCH
FOTO: MARIO LANG

Widerspruch 1, «das ­Asylparadox»: Damit Schutzsuchende in ­Österreich zu ihrem Recht auf Asyl kommen, müssen sie zuvor Recht brechen und versuchen, illegal EU-Grenzen zu überwinden.
Widerspruch 2, «das Flüchtlingsparadox»: Wem die Behörde hierorts Asyl gewährt, der:die soll sich gefälligst sofort auf dem Arbeitsmarkt integrieren. Frauen mit Kindern, Ältere, chronisch Kranke, die eher als «schutzbedürftig» gelten, können diese Erwartung kaum erfüllen.
Widerspruch 3, «das Integrationsparadox»: Die Kopftuch tragende Frau wird als Putzfrau gnadenhalber akzeptiert, aber wehe, sie will Lehrerin oder Managerin werden. Dann stößt erfolgreiche Integration sofort auf Ablehnung.

Ihr Buch.

Judith Kohlenberger seziert in ihrem jüngsten Buch mit dem Titel «Das Fluchtparadox» unseren Umgang mit Geflüchteten. Darin attestiert sie «dem klassischen Aufnahmeland Österreich» nicht nur Willkommenskultur. Alles in allem befindet sie: «Es gibt eine Gleichzeitigkeit von Aufnahme- und Ablehnungstendenzen.»
Wir treffen die Kulturwissenschafterin am Welthandelsplatz, genauer gesagt am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien. Seit Herbst 2015 befasst sie sich hier im Rahmen von interdisziplinären Forschungsprojekten mit der Fluchtmigration.
«Begonnen haben wir im Herbst 2015», ­erinnert sich Judith Kohlenberger an den Höhe­punkt der damaligen Flüchtlingswelle. «Wir wollten wissen, wer da eigentlich zu uns kommt.» Damals konnte nur spekuliert werden, daher war die Frage mehr als legitim: «Wir wollten es nicht beim Zählen von Köpfen belassen, wir wollten vielmehr wissen, was in diesen Köpfen drinnen steckt.»

Ihre Studie.

Es entstand die erste europäische Studie über das Humankapital und die Werte­vorstellungen von Schutzsuchenden. Und es konnten einige weit verbreitete Vorurteile ­widerlegt werden.
Erstens: «In der Regel machen sich eher Menschen mit höherer Bildung auf den Weg, weil eine Flucht auch finanzielle Ressourcen erfordert.»
Zweitens: «Niedrig Qualifizierte finden schneller Arbeit, wenngleich diese ­Integration weniger nachhaltig ist. Höher Qualifizierte müssen sich ihre Ausbildungen in Österreich meist langwierig nostrifizieren lassen.»
Drittens: «Frauen, die Sorgearbeit in ihren Familien leisten, haben zwar kaum Zeit, um einen Sprachkurs zu besuchen, erhalten aber dank ihrer Kinder mehr Gelegenheiten, um mit Hiesigen ins Gespräch zu kommen.»
Viertens: «Es ist auch im Fall der Ukrainer:innen bei Weitem nicht so, dass alle wieder zurück in ihre Heimat möchten.»
Auch wenn Judith Kohlenberger erst 2015 zu ihrem forschungsleitenden Thema kam: Was Migration sein kann, hat sie schon als Kind mitbekommen: «Ich komme aus Wallern im äußersten Seewinkel, unweit der ungarischen Grenze, aus einer klassischen burgenländischen Binnenmigrationsfamilie.»
Die Mutter, eine Mittelschullehrerin in der benachbarten Ortschaft Andau; der Vater als Ingenieur wie so viele im Ort ein Tagespendler nach Wien. Und ja, auch Judith Kohlenberger hat Verwandte, die in die USA ausgewandert sind, die man aber hierzulande niemals als Wirtschaftsflüchtlinge abtun würde.
Noch als Schülerin sieht die heute 35-Jährige die EU-Außengrenze fast vor ihrer Haustüre, erst 2004 fällt diese durch die «Osterweiterung». Die Frage der eigenen Identität beschäftigt sie beinahe zeitgleich: «Ich habe nicht verstanden, warum unsere ­Bundeshymne mit den Bergen beginnt. Denn ich habe im Seewinkel nie einen Berg gesehen.»

Ihre Courage.

Judith Kohlenberger forscht nicht nur, sie engagiert sich auch für den ­Verein «Courage», der von der Schauspielerin ­Katharina Stemberger gegründet wurde. Gemeinsam ­möchte man 100 Familien, die in Griechenland ­einen Asylstatus erhielten, nach Österreich ­holen. Quartiergeber:innen gibt es längst, weiterhin fehlt jedoch die Zustimmung der Bundesregierung. Womit wir wieder beim Thema sind: Ungarnaufstand 1956, Prager Frühling 1968, Solidarność-Streiks in Polen ab 1980, Fall des Eisernen Vorhangs 1991, Jugoslawienkrieg bis 1995, Flüchtlingswelle 2015, Ukrainekrieg ab 2022: Immer hat Österreich als «Tor zum Westen» Menschen aufgenommen, viele übrigens auch integriert.
Auffallend ist für Judith Kohlenberger ­jedoch, «dass die Stimmung jedes Mal schon nach kurzer Zeit gekippt ist, dass es immer wieder politische Kräfte gibt, die gegen Ankommende schnell polemisieren».
PS: Die Forscherin, die von der Stadt in den Integrationsrat berufen worden ist, betont auch bei unserem Treffen, dass Wien als einziges Bundesland die Aufnahmequote nicht nur ­erfüllt, sondern «übererfüllt».