Faszination Fischvorstadt

Was in München das Oktoberfest, das ist im tschechischen Třeboň das Abfischfest. Ein Spektakel über mehrere Tage.

TEXT & FOTOS: WENZEL MÜLLER

Mal gehörte das heutige Tschechien zur K.-u.-k.-Monarchie, mal zum Warschauer Pakt. Von einem Extrem zum anderen. Doch in einem Punkt blieb sich das Land treu: Zu Weihnachten kommt ein Karpfen auf den Tisch. Ein Karpfen aus Südböhmen. So ist es seit langem Brauch.
Ein Blick auf die Karte zeigt, dass es sich in Südböhmen um eine wasserreiche Gegend handelt. «Land der tausend Seen» wird sie gerne genannt. Doch es sind keine Seen, schon gar nicht Badeseen, sondern Fischteiche. Angelegt im 15. Jahrhundert. Rund 500 Weiher und Fischteiche gibt es hier, kleinere und größere.
Der größte ist der Rosenberg-Teich (tschechisch Rybník Rožmberk) in der Nähe von Třeboň (deutsch Wittingau) – er ist laut Tschechien-Tourismuswerbung zugleich der größte Fischteich in Europa. Wenn hier im Herbst der Karpfen aus dem Wasser geholt wird, ist das ein wahres Volksfest. München hat sein Oktoberfest, Třeboň sein Abfischfest. Ein Spektakel über drei Tage.
Zum Abfischen wird das Wasser sukzessive aus dem Teich gelassen. Schon in der Früh sind Fischer in Gummimontur dabei, mit Zugnetzen die Karpfen einzufangen. Es geht um einen Fang von immerhin 150 Tonnen (Karpfen können in Einzelfällen bis 120 Zentimeter lang und über 40 Kilogramm schwer werden, ein Rekordfang im November 2018 am ungarischen Euro-Aqua-See wies ein Gewicht von 51,2 Kilogramm auf). Der Abtransport geschieht mit Lkws. Die einen arbeiten, die anderen kommen, um ihnen bei der Arbeit zuzuschauen. Es sind so viele Zu­schauer:innen, mehrere Tausend, dass die Polizei alle Mühe hat, den Verkehr unter ­Kontrolle zu halten. Ständig kreist ein Hubschrauber über der Gegend. Wir kennen das von großen Fußballspielen, hier ist es wohlgemerkt ein Fisch, der die Menschen anlockt. Ein vergleichsweise kleines und glitschiges Tier.
Blasmusik spielt, Bier fließt, Karpfen gibt es an den zahllosen Ständen gegrillt, gekocht, gebacken oder paniert. Die ­Sonne scheint, die Stimmung ist prächtig. Viel braucht es nicht fürs Glück. Zum Oktoberfest reisen gerne Italiener:innen über die ­Alpen an. Die Tschech:innen sind weitgehend unter sich.
Um zu verstehen, warum der Karpfen eine derart hohe Anziehungskraft auf sie hat, muss man wissen, dass Tschechien der größte Süßwasserfisch-Produzent der EU ist. Und der Karpfen sein landwirtschaftliches Exportgut Nummer eins. 80 Prozent des Fangs gehen in den Export. Auch nach Österreich. Nicht nur in Tschechien, auch bei uns wird der Wittingauer Karpfen (so seine geschützte Herkunftsbezeichnung) als Weihnachtsessen geschätzt.
Historisch betrachtet geht die Karpfendomestikation auf die Römer zurück. Es gibt dafür Hinweise aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. bei Carnuntum an der Donau (Bezirk Bruck/Leitha), es können aber auch Züchtungen in China nicht ausgeschlossen werden.
Zurück ins heutige Tschechien: Selbst am Abend, als die meisten schon wieder abgefahren sind, sieht man Menschen in Gummistiefeln durch den ausgelassenen Teich waten. Vielleicht weil sie das Einsinken in den Matsch lieben, vielleicht weil sie nach zurückgelassenen Karpfen suchen.

Axel Hein ist Meeresbiologe beim WWF und hat den WWF-Fischratgeber mitverfasst, der auch Süßwasserfische beinhaltet. Eine besondere Rolle spielt darin der Karpfen. Der Augustin wollte vom Fischexperten wissen, was den ursprünglich aus Asien stammenden Allesfresser auszeichnet.
Von den 66 im WWF-Fischratgeber erfassten Fischarten und Meeresfrüchten werden lediglich drei Arten als ausschließlich beden­kenlos eingestuft – neben der Auster und dem Wels auch der Karpfen. Was zeichnet die Karpfenzüchtung und -haltung aus?
Axel Hein: Karpfen sind anspruchslos und gedeihen auch in Wasser mit wenig Sauerstoff. Sie eignen sich daher gut für die Zucht in flachen Teichen. In vielen Ländern Europas werden daher Karpfen in Teichanlagen in großem Maßstab gezüchtet. Da ­Karpfen ­Allesfresser sind und sich sowohl von Pflanzen und Algen im Gewässer als auch von den Bodentieren ernähren, muss lediglich ­Getreide zugefüttert werden.
Kann mensch daher beim Karpfenkauf ruhigen Gewissens nach nicht biozertifizierten Exemplaren greifen?
Grundsätzlich ja, auch wenn die Bio-Zucht nochmal einen Schritt weitergeht, da sämtliche dem Teich zugeführten Futtermittel aus
Bio-Landwirtschaft kommen.
Aber auch die konventionelle Zucht von Karpfen ist weitgehend bedenkenlos, da die Umweltauswirkungen der Karpfenzucht sehr gering sind.
Was ist an den (Vor-)Urteilen dran, der Karpfen sei fett und würde letteln bzw. grundeln, also abtörnend schlammig schmecken?
Obwohl Karpfen ihre Nahrung in der Schlammschicht des Gewässergrundes ­suchen – sie durchwühlen dabei den Boden nach Würmern, Kleinkrebsen, Insektenlarven und kleinen Weichtieren –, hat der manchmal auftretende lettelnde Geschmack nichts damit zu tun. Vielmehr handelt es sich dabei um Blaualgen, die im Wasser auftreten können und ein Indiz für ein schlechtes Wasser-Management sind.
Um das Letteln im Geschmack zu vermeiden, werden Karpfen meistens «ausgewassert», sprich sie werden in Hälterungsbecken mit klarem Wasser in den letzten ­Wochen vor der Schlachtung gehalten, damit der Geschmack wieder aus dem Fleisch «ausgewaschen» wird.
Abgesehen davon ist der Karpfen ein alles ­andere als fetter Fisch. Zuchtlachs hat einen wesentlich ­höheren Fettanteil als der Karpfen. Das Fleisch des Karpfens ist reich an hochwertigem Eiweiß, cholesterinneutral und hat eine günstige Fettsäurezusammensetzung.

Der WWF-Fischratgeber soll die Kaufentscheidung ­erleichtern. Miteinbezogen werden Kriterien wie ­Zustand der Fischbestände, Umweltauswirkungen sowie Management von Fischereien und Aquakulturen weltweit.
Kostenloser Download:
https://fischratgeber.wwf.at