Sport, nicht Kampfvorstadt

Austeilen und einstecken, das macht das Wesen des Boxsports aus. Was das konkret und im Einzelnen bedeutet, erfuhr Wenzel Müller (Text und Fotos) bei einer Trainingsstunde von Leopold Kreczy am Universitätssportzentrum auf der Schmelz.

Der Partner hebt eine Hand in die Höhe. Meine Aufgabe ist, in sie zu schlagen, abwechselnd mit der linken und rechten Faust. Führhand, Schlaghand, Führhand – links, rechts, links. Ist ja gar nicht so schwer. Zielsicher lande ich meine Treffer. Bum, bum, bum. So geht es bei dieser Aufwärmübung ein paar Mal hin und her. Dann gibt mir mein Partner irgendwann, recht taktvoll, den Tipp, erstens die Zunge immer im Mund zu lassen und zweitens aufs Atmen nicht zu vergessen. Er zeigt es mir vor: Gleichzeitig mit jedem Schlag soll ich kräftig Luft ausstoßen. Ist alles doch nicht so einfach.
Ich hatte den Trainer gefragt, ob ich für eine AUGUSTIN-Sportreportage beim Boxtraining zuschauen könne. Ja, natürlich, kein Problem, war die Antwort von Leopold Kreczy. Wenn ich wollte, könnte ich auch mittrainieren, Boxhandschuhe gebe es zur freien Entnahme im Kasten.
Ja, warum eigentlich nicht? So ein nettes Angebot darf man sich nicht entgehen lassen. Vor vielen Jahren, als Student, hatte ich mit einem Freund schon einmal einen Boxkurs belegt, allerdings mehr aus Spaß, und das, was ich damals gelernt hatte, ist längst wieder vergessen. Mittlerweile in die Jahre gekommen und das Haar grau, begebe ich mich also wieder wenn auch nicht in den Ring, so in den Konditionsraum des Wiener Universitätssportzentrums, bereit für das Kräftemessen mit den Fäusten, das so alt sein dürfte wie die Menschheit selbst. Mann gegen Mann, und am Ende wird einer der Sieger und der andere der Verlierer sein – so ganz stimmt dieses Bild freilich nicht mehr, seit nämlich auch Frauen in dieser einstigen Männerdomäne mitmischen und ein Kampf ebenso unentschieden ausgehen kann.

Die Fäuste sprechen lassen. Gut die Hälfte der Teilnehmer_innen in diesem Anfängerkurs (!) sind Frauen. Hier kommen alle zusammen, Männer und Frauen, Junge und Alte, Schwer- und Leichtgewichte. Bei Wettkämpfen wird streng getrennt, nicht zuletzt zwischen einzelnen Gewichtsklassen, da gibt es etwa die Superleichtgewichte (bis 63,509 kg), die Weltergewichte (bis 66,678 kg) und die Superweltergewichte (bis 69,85 kg). Hier jedoch geht es nicht darum, eine_n Sieger_in zu küren. Die Leute kommen vielmehr, um sich auszupowern, um Adrenalin in ihre Blutbahnen zu schießen, um Aggressionen abzubauen, um sich in Selbstverteidigung zu üben, um das zu machen, was in unserem modernen Alltag kaum mehr möglich ist: die Fäuste sprechen zu lassen. Und nicht zu vergessen: Um Spaß zu haben, das ist vor allem dem Trainer Leopold Kreczy wichtig.
Aufwärtshaken Gerade seitlicher Haken: Diese Schlagkombination, jeweils in Fäuste des Gegners, steht nun auf dem Programm. Nicht so weit ausholen!, rät mir mein Partner. Die Schläge sollen überraschend kommen und nicht schon im Ansatz zu erkennen sein. Und: die Fäuste nach jedem Schlag nicht nach unten sinken lassen, sondern sofort wieder vors eigene Gesicht führen, zur Deckung! Damit nicht genug, auch auf meine Beinarbeit soll ich achten. Ein Fuß, erklärt mir mein Partner, gehört immer etwas vor den anderen gestellt, in meinem Fall hat der linke vorne zu sein, da rechts meine Schlaghand ist. Denn richtig ausgeführt, gehe ein Schlag mit einem Vorwärtsschritt und einer explosiven Drehung der Hüfte einher. Im Schnelldurchgang lerne ich die Grundlagen des Boxsports kennen.

Individuelle Fähigkeiten einbringen. Für Leopold Kreczy ist das Faszinierende an diesem Sport, dass jeder seine individuellen Fähigkeiten einbringen könne. Der Tänzer seine Leichtfüßigkeit, der Fußballer seine Kraft in den Oberschenkeln, der Tennisspieler sein Feingefühl in den Händen. Viele Sportarten gingen gleichsam im Boxen auf. «Ich spiele nicht Golf, daher kann ich schlecht etwas über diesen Sport sagen, aber ich bin mir sicher, dass auch ein Golfspieler seine besonderen Fähigkeiten im Boxen einbringen kann», sagt der Trainer.
Leopold Kreczy ist im Brotberuf Geologe. Seit 40 Jahren leitet er Boxkurse am Sportzentrum der Wiener Universität. Und das heißt: Im Laufe seines Lebens hat er schon Tausende Menschen in die Kunst dieses Sports eingeführt, so viele wie gewiss kein anderer in Österreich. Was in seinem Training absolutes Tabu ist: ein Schlag auf die Nase des Gegners. Denn das bringe nichts, das tue nur weh. Wirkungsvoller sei im Übrigen, den Gegner unter dem Kinn zu treffen. Da gebe es ein Nervengeflecht, bei dessen Reizung der Gegner zuverlässig zu Boden gehe.

Gut gebucht. Eine halbe Stunde Training ist vorbei. Nun steht «Ausruhen» auf dem Programm. So wird es angekündigt, wer schon länger dabei ist, weiß allerdings, dass es jetzt richtig zur Sache geht. Zum Muskelaufbau, der nicht nur der Schlagkraft dient, sondern auch dazu, die Schläge der Gegnerin gut wegzustecken. Denn in diesem Sport sind nicht zuletzt sogenannte Steherqualitäten gefragt. Man teilt aus, und man steckt ein. Wir machen Übungen für die Bauch- und Rückenmuskeln, und zwischendurch immer wieder Liegestützen, die sich am Ende auf nicht weniger als 200 summiert haben werden. Der Schweiß fließt, die Muskeln brennen, ein Ächzen und Stöhnen hallt durch den Raum. Der Boxkurs gilt traditionell als der härteste, den die Sportuniversität im Köcher hat – und gerade diesen ultimativen Kick suchen nicht wenige Teilnehmer_innen. Jedes Semester das gleiche: Innerhalb kürzester Zeit ist dieser Kurs ausgebucht.
«Boxen muss nicht wehtun», das war ein Leitspruch von Kreczys Vorgänger am Sportuniversitätszentrum, von Peter Weiss, österreichischer Meister im Federgewicht. Und dieser Leitspruch gilt heute noch für Kreczy. Er lehrt Boxen als Sport, nicht als Kampf. Als ein Kräftemessen, nicht als Gewalt. Gewalt wird höchstens dem eigenen Körper angetan, so zumindest meine Erfahrung.