Wohin mit den Abgewerteten?tun & lassen

Gentrifzierung und Armut sind enge Verwandte

Damit ein Stadtteil aufgewertet werden kann, müssen die Abgewerteten verschwinden. So weit, so klar. Aber wie sieht der Zusammenhang von Gentrifzierung und Armut in der Praxis aus? Lisa Bolyos hat im neu erschienen Band Gentrifzierung in Wien nachgelesen.
Illustration: Much

Als die Stadt Wien im Jahr 2010 beschloss, den Karlsplatz wieder aufzuhübschen, wurden grob verkürzt zwei Ziele verfolgt: Die Drogensüchtigen mussten weg, Kunst musste her. Heute bestimmen Pop und Film, ausgerichtet auf studentische Schlauköpfe, die Sommer am Henry-Moore-Brunnen, und winters darf der Mittelstand hier biologisch produzierte Weihnachtsleckereien konsumieren. Was das Drogenproblem betraf, fand sich eine Schule, deren Einzugsareal zur Schutzzone erklärt werden konnte (wer will schon Sechsjährige dem öffentlichen Drogenkonsum aussetzen), die Polizei war monatelang im Einsatz, und die Drogenszene verschwand. Nein, sie verschwand natürlich nicht, aber sie war erfolgreich verdrängt worden. Der Kunstplatz Karlsplatz ist heute ein Ort der Sauberkeit, der Sicherheit und des einigermaßen hochgeistigen Vergnügens. Die mediale Begleitung dieses Aufwertungsprozesses brandmarkte den Karlsplatz als «gefährlich» und als «Brennpunkt» und rechtfertigte damit die staatlichen Interventionen gegen die Platznutzer_innen. Die «gefährlichen Anderen» dürfen vertrieben werden, um «eine andere soziale Ordnung im öffentlichen Raum herzustellen», schreibt Marc Diebäcker in dem Band Gentrifzierung in Wien, herausgegeben von Mara Verlič und Justin Kadi im Auftrag der Arbeiterkammer Wien, der am 6. Mai präsentiert wurde.

Öffentliches Geld, privater Wert. Diebäcker, Sozialwissenschaftler am Department Soziale Arbeit der FH Campus Wien, spricht in seinem Buchbeitrag Gentrifzierung und Öffentliche Räume von der Bedeutung, die die Aufwertung des öffentlichen Raums durch öffentliche Gelder für die Inwertsetzung von Immobilien hat. «In dieser urbanen Debatte über öffentlichen Raum verbinden sich ökonomische Wachstumsstrategien mit politischen Legitimationsmustern, die sich an Nutzungspräferenzen und Geschmäckern von Ober- und Mittelklassemilieus orientieren», schreibt er und weiß neben dem Karlsplatz noch ein zweites Beispiel: den Praterstern. Dessen sozialräumliche Geschichte wurde im AUGUSTIN ausführlich dokumentiert, bis zum vorerst letzten Stichwort in der Chose, dem Alkoholverbot, einem sozialdemokratischen Geniestreich zur Vertreibung der Armen. Denn die Armen gefährden das Image. Um den ungemütlich – dabei durchaus nicht hübsch – gewordenen Bahnhof herum attraktiviert sich die Stadt. Die Fußball-EM konnte ungeniert gehostet werden, das alte Nordbahnhofgelände wird zum Stadtentwicklungsgebiet für Mittelstand plus. Die Armut in Wien wächst, aber der Platz für die Armen schrumpft. Das gilt nicht nur fürs Wohnen und Aufhalten, sondern auch fürs Arbeiten: Die Straßensexarbeit, die vor wenigen Jahren das Stuwerviertel im zweiten Bezirk, später immerhin noch die Südportalstraße am Prater geprägt hat, ist heute an zwei periphere und schlecht ausgestattete Zonen der Stadt verdrängt worden. Renate Blum von der Migrantinnen-Rechtshilfeorganisation LEFÖ tritt im Interview mit Herausgeberin Verlič auch für Sauberkeit und Sicherheit ein – aber nicht gegen, sondern für die Marginalisierten: «Zentrale und leicht erreichbare Orte (für die Sexarbeit, Anm.) reduzieren Abhängigkeiten und Gefahren. Man könnte die Orte nett gestalten, sie müssen nicht grindig und hässlich sein, dafür gibt es keinen Grund.»

Durchmischt die Reichen. Wenn die Stadt «erweitert» wird, für den Neubau erschlossen, kommt mit Sicherheit eine Urwiener wohnpolitische Idee aufs Tapet: die soziale Durchmischung. Sie suggeriert «gesellschaftspolitisch wünschenswerte Zielvorstellungen wie Vielfalt, Toleranz, Stabilität, Sicherheit, Integration und Lebensqualität», schreibt Roswitha Harner vom neunerhaus in ihrem Beitrag Verdrängung von Menschen mit niedrigem Einkommen: Der Diskurs zu sozialer Durchmischung aus Perspektive der Wiener Wohnungslosenhilfe. Jedoch werde soziale Durchmischung mitnichten als Instrument verstanden, «um die Wohnsituation von Menschen mit niedrigem Einkommen zu verbessern», sondern ganz im Gegenteil, um «Ausschluss- und Verdrängungsprozesse» zu legitimieren. Der «Nachbarschaftseffekt», den soziale Durchmischung haben soll (sprich, die besseren Schulen durch den Zuzug des Mittelstandes, die auch den Familien mit niedrigem Einkommen zugute kommen, oder das Kapital, das der Mittelstand mitbringt und das den vormals Erwerbslosen über ein paar Ecken zu neuen Jobs verhilft), ist nicht nachweisbar, argumentiert Harner. Räumliche Nähe führt nicht automatisch zu sozialer Nähe.
Soll ein Grätzl nun sozial durchmischt werden, seine Probleme also durch den Zuzug von Bevölkerungsgruppen gelöst werden, die sich anders, besser und kapitalintensiver benehmen, setzt die Verdrängung ein. Denn das Kapital der neu Zugezogenen (und das unzureichende Mietrecht) lässt die Mieten steigen. Und die Alltagskultur, die Einzug hält, wenn, wie Kadi und Verlič in der Einführung des Bandes treffend schreiben, «die Dönerbude dem In-Café weicht und der Waschsalon dem Fahrradgeschäft» (in der Reinprechtsdorfer Straße, dem Sitz des AUGUSTIN, haben erst kürzlich zwei neue Hochpreis-Fahrradgeschäfte eröffnet) – die ist exklusiv, sie meint nicht alle, und sie lässt nicht alle teilhaben. Außerdem, stellt Harner fest, ist die Forderung nach sozialer Durchmischung eine Einbahnstraße: Nur «benachteiligte Quartiere, Stadtteile oder Wohnungsmarktsegmente» seien gemeint, «homogen reiche bzw. privilegierte Wohngebiete» nie. Oder haben Sie schon einmal gehört, dass das Problemviertel rund um die Kärntner Straße sozial durchmischt werden soll, weil zu viele Reiche auf einem Haufen die Sicherheit der Stadt gefährden? Sachdienliche Hinweise an die Redaktion erbeten.

Justin Kadi, Mara Verlič (Hg): Gentrifizierung in Wien.
Perspektiven aus Wissenschaft, Politik und Praxis.
Wien 2019, 199 Seiten
Gratis-Download:
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