Surprise, Real Change & Augustintun & lassen

Globales Straßenzeitungstreffen in Schottland

1915 (also achtzig Jahre vor dem ersten Augustin) wurden im nordamerikanischen Cincinnati die «Hobo News» gegründet, als Zeitung «von, für und über obdachlose migrantische Arbeiter_innen». «Hobo News» gilt als weithin anerkannte Urgroßmutter der modernen Straßenzeitungen. Rund vierzig solcher Zeitungen aus europäischen, afrikanischen, asiatischen, amerikanischen und australischen Städten kommen jährlich zu einem internationalen Treffen zusammen. Heuer wurde das «International Network of Streetpapers», kurz INSP, zwanzig Jahre alt. Die Happy-Birthday-Gesänge beschallten die Gründungsstadt Glasgow.

Foto: Kirstie Gorman

«Yes!» steht auf dem Transparent, das von einem Balkongeländer weht. Und «yes!» auch auf der blau-weißen Flagge, die auf der Backsteinfassade hinter der Busstation hängt. Ein Sticker mit lachender Sonne und der Aufschrift «Westminster, nein danke!», abgekupfert von der Anti-Atom-Bewegung, klebt auf der Klotür eines frequentierten Beisls in der Glasgower King’s Street. Am 18. September stimmen die Schott_innen über die Unabhängigkeit von der als englisch verstandenen, im Londoner Stadtteil Westminster residierenden Regierung Großbritanniens ab. Vom Süden kommt nichts Gutes, ist der Tenor. Die grünen Hügel des Nordens wollen sich selbst regieren; hier sei man weltoffener, besser organisiert und halte «social cuts», Kürzungen des Sozialbudgets, für die schlechteste aller Sparmaßnahmen. Das sind, kurz und verkürzt wiedergegeben, die Argumente gegen das von der anderen Seite propagierte «better together», das an einem Vereinigten Königreich festhält.

Vierzig Straßenzeitungen am River Clyde

In Glasgow scheint heute die Sonne. Eine Seltenheit, bestätigt der «Big Issue»-Verkäufer in der Stockwell Street die touristischen Vorurteile. Hier, in der größten Stadt Schottlands, findet Mitte August das 18. internationale Straßenzeitungstreffen statt. Rund einhundert Vertreter_innen von etwa vierzig Straßenzeitungen zwischen Tokyo und Kapstadt, Vancouver und Melbourne, Buenos Aires und Oslo treffen sich in einem – etwas zu schick geratenen – Hotel am River Clyde (auf Gälisch übrigens «Cluaidh»), um die Lage auf den Straßen der Welt zu sondieren.

Die Arbeitsweise der Redaktionen, die Vertriebssysteme, die Auflagenzahlen und die Werbekonzepte, die Organisierung der Verkäufer_innen, der Umgang mit Behörden, mit Armut, mit dem Zugang zum öffentlichen Raum, all das wird diskutiert, verglichen, auf bessere Ideen abgeklopft, die man sich abschauen könnte. Die einen Zeitungen sind ein halbes Jahr alt, die anderen haben die Volljährigkeit längst hinter sich. Die einen machen die Utopie stark, «dass es eines Tages keine Verkäufer_innen mehr gibt», die anderen finden, «dass unsere Zeitungen zu gut sind, um sich ihr Ende zu wünschen». Die einen möchten «Housing First»-Projekte umsetzen, um der Obdachlosigkeit gegenzusteuern, die anderen wollen erst einmal öffentliche Gelder von den verarmten Banken auf die verarmten Menschen umverteilt sehen.

Straßenzeitung ist gleich Straßenzeitung? Falsch gedacht. Die Strategien könnten unterschiedlicher kaum sein. Nehmen wir das Handwerk der Berichterstattung: Während sich Zeitungen wie der Augustin, die Schweizer «Surprise» oder «Hinz & Kunzt» aus Hamburg in erster Linie dem kritischen Journalismus verschreiben, der ihnen in anderen Medien abgeht, will etwa die «Boca de Rua» (Porto Alegre, Brasilien) vor allem eine Stimme der Weggedrängten und ein Medium der Selbstorganisierung sein; die Zeitung wird von den Verkäufer_innen selbst gemacht, vom Anfang bis zum Ende. Ähnlich die slowenische «Kralji Ulice» und die Linzer «Kupfermuckn».

Oder die soziale Arbeit: Der Augustin bietet sehr weitreichende Sozialarbeit an, mit der Konsequenz, dass die Zahl der Verkäufer_innen begrenzt ist. Viggo Mastad vom «Sorgenfri» im norwegischen Trondheim möchte hingegen lieber, dass alle kommen können, um Zeitungen zu verkaufen – mit der umgekehrten Folge, dass die angebotene Unterstützung schnell ihre Grenzen erreicht. Es sei ihm wichtig, sicherzugehen, «dass niemand wegbleibt, der uns womöglich gerade braucht». Das Team der dänischen «Hus Forbi» wiederum schickt junge Leute, die sich als Verkäufer_innen bewerben, weiter. Brutal? Im Gegenteil: «Die Jungen haben unserer Ansicht nach noch eine Chance, sich neue Zusammenhänge zu suchen. Wir wollen nicht, dass sie ihren Arbeitsalltag nur mit alten Männern verbringen, die spiel- und drogensüchtig sind.» «Wir bieten Frühstück an und Zeit für ein Gespräch hier und da», beschreibt Alan Attwood vom «Big Issue» in Melbourne, Australien, die Situation vor Ort. «Wenn die Leute mehr brauchen, vermitteln wir sie an Orte, an denen sie professionell unterstützt werden können.» Dass es in Wien mehr Verkaufs-Interessierte als freie Verkaufsplätze gibt, können sich auch Aaron von «Real Change» in Seattle, Lana von «Speak Up» in Charlotte und Sergio von «Shedia» in Athen kaum vorstellen. Sie leiden an akutem Verkäufer_innenmangel: «Schickt eure Leute nach Melbourne und Seattle», schlägt Alan spaßhalber vor, «wir brauchen sie dringend!» Wir werden das ausrichten.

www.street-papers.org