Petra Sturm erweckt als Radhistorikerin viel Stadtgeschichte-Dynamik wieder zum Leben.
TEXT: UWE MAUCH
FOTO: MARIO LANG
Die Bellaria. Auf der Fahrt ins Büro schießt ihr unweigerlich das Schicksal der Wiener Radrennfahrerin Cenzi Flendrovsky durch den Kopf. Was, wenn ihr als Forscherin ausgerechnet hier dasselbe Missgeschick widerfahren würde wie der wohl spannendsten Protagonistin ihrer Forschung?
Flendrovsky war um die Jahrhundertwende, als Radrennen in Wien noch nicht streng reglementiert waren, eine bekannte Radsportlerin, mit epischem Karriereende und öffentlichem Begräbnis: Nach einem bösen Sturz bei der Bellaria soll die damals 28-Jährige den ärztlichen Rat, den Arm zu amputieren, abgelehnt haben. «Wenig später erlag sie ihrem Wundbrand.»
Radgeschichte.
Die Historikerin Petra Sturm hat die bisher unbekannte Personalie zufällig entdeckt, in der Nähe der Bellaria: «Beim Durchblättern alter Radzeitungen im Lesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek.»
Es gibt wenige Menschen in Wien, die über die konfliktreiche Geschichte des Fahrrads in dieser Stadt besser informiert sind als die gebürtige Salzburgerin. Es ist somit als Glück zu werten, dass sie heute von ihrem schmucken Puch-Rennrad steigt, um uns Einblicke in ihre Recherchen zu gewähren.
Zu Recht bezeichnet sich Petra Sturm als Radhistorikerin. Dabei ergeht es ihr wie vielen Innovativen in Wien: Im Vergleich zum Aufwand, mit dem sie ihre Arbeit betreibt, erfährt sie wenig Anerkennung. Bisher unbekannte Schätze im Lokalen bringt sie mehr oder weniger unentgeltlich ein. In den unbeweglichen Institutionen für Stadtgeschichte wird man ihre Entdeckungen wohl erst in einigen Jahren zur Kenntnis nehmen.
Die Radhistorikerin weiß das natürlich, lässt sich aber ebenso wie auf ihrem Renn- oder Faltrad nicht bremsen: «Ich betreibe Grundlagenforschung, weil sie mir wichtig ist.» Ihr Credo: «Das Rad ist die perfekte Projektionsfläche für alles.»
Präzise skizziert sie den mühevollen Weg der Radfahrenden von Wien: «Von Anfang an war es ein harter Kampf. Bis heute sehen sie sich mit Widerständen konfrontiert.» Schon zu Zeiten der Cenzi Flendrovsky sei um die Verteilung des öffentlichen Raums heftig gerungen worden.
Radausflüge.
Dabei diente das Fahrrad seit der vorletzten Jahrhundertwende für Millionen von Wienerinnen und Wienern als Vehikel zu mehr Freiheit. Erst für das Bürger_innentum, dann für die Arbeiter_innenschaft, heute noch für (zugegeben relativ wenige) Kinder und Jugendliche: «Mit dem Fahrrad konnte der eigene Aktionsradius deutlich erweitert werden.»
Petra Sturm kennt diese persönliche Erweiterung aus eigener Erfahrung, auch wenn oder vielleicht gerade weil sie nicht in der Stadt aufgewachsen ist: «Wir sind von Mattsee in die Nachbardörfer geradelt und konnten uns dadurch neue Räume erschließen.» Auch bei ihren Studienaufenthalten in Wien, Frankreich und Schottland half ihr immer ein schnell erworbenes Fahrrad, das zunächst fremde Terrain zu erkunden.
«Später verstärkt es wohl auch unsere Kindheitserinnerungen», konnte die Radfahrerin feststellen. Egal von welcher Perspektive sie es betrachtet, immer finden sich neue Facetten, so auch aus der Sicht der Sozialpsychologie.
Mit dem Fahrrad fährt die Historikerin ein Mal pro Jahr auch auf Urlaub: «Besonders schön ist es, wenn du zum Beispiel in einer Gruppe mit dem Rennrad durch das Soča-Tal fährst und dein Ziel irgendwo am Meer liegt.»
Als eine Bereicherung bezeichnet die Historikerin auch ihr Zusammenspiel mit der Kunst. So konnte sie mit Gleichgesinnten eine Idee realisieren, auf die sie ebenfalls bei der Durchsicht historischer Zeitungen stieß: «Um die Jahrhundertwende wurden in Wien sogenannte Radreigen aufgeführt. Ich habe bei meinen Recherchen auch Anleitungen gefunden, wie diese Tänze auf dem Fahrrad zu fahren sind.»
Radreigen.
Damit lag für sie auf der Hand, den Radreigen als öffentlichen Event in die Gegenwart zu holen: «Bisher haben wir bereits mehrere schöne Aufführungen zusammengebracht, auf dem Schwarzenbergplatz ebenso wie auf dem Yppenplatz.»
Dazu passend: Neben der Geschichte und den Geschichten rund ums Fahrrad hat Petra Sturm noch eine Leidenschaft, die Musik. So verstärkt sie mit ihrem Tenorhorn («quasi die E-Gitarre der Blasmusik») das 50-köpfige Kollektiv der Musikarbeiter_innen. Als ihre Obfrau bemüht sie sich, dass das Kollektiv auch regelmäßig kollektiv zusammenfindet.
Darüber hinaus ist sie im Ottakringer Blockflötengewitter zu hören. Und mit einem Roman hat sie auch begonnen. «Das Fahrrad kommt natürlich vor», verrät Petra Sturm. Ehe sie auf ihr Rennrad steigt und wieder einmal unfallfrei die Bellaria hinter sich lässt.