Wasserwelten und Suppenparadiesvorstadt

Der Nordosten Polens, drei Grenzen, viel Holz und noch mehr Wasser. Eine Reise mit Faltrad und Zelt in Zeiten der Pandemie.

TEXT & FOTOS: MARIO LANG

Auszüge aus dem Reiseblog:

Anreisetage haben selten etwas Romantisches. Raus aus dem Zug, rauchen, einkaufen, Gleis wechseln, rauchen, rein in den Zug. In Warschau, ebenso wie in Białystok, wo der Bahnhof gerade frisch renoviert wird. Das Bild in den Zügen ist nicht anders als zu Hause – Menschen ohne Mund und Nase. Die Garnitur in Richtung Suwałki ist am neuesten Stand, freies Internetz inklusive. Am späten Nachmittag rollt der Zug endgültig in Augustów ein, und das Tagesziel – Campingplatz, Essen, Trinken, Schlafen – rückt ein Stück näher. So der Plan, aber bereits die ersten Kilometer signalisieren die Probleme der kommenden Tage – Saisonende – geschlossene Lokale, geschlossene Campingplätze. Am
Studzieniczne-See findet sich dann doch noch ein feines Platzerl.
Die polnischen Nächte sind bereits herbstlich kühl. Während der Instantkaffee kocht, arbeitet sich die Morgensonne hinter den Bäumen empor. Der Nordosten Polens erinnert landschaftlich an Finnland – viel Holz, viel Wasser, viel Gegend, wenig Menschen. Wenn Menschen unterwegs sind, sind sie ausgestattet mit Kübeln und Sackerln und auf der Suche nach Schwammerln. Die Räder rollen auf wenig befahrenen Landstraßen und verschlungenen Waldwegen in Richtung Norden, dem Wigry-Nationalpark, nahe Suwałki entgegen. Der Untergrund macht die Musik: teils über Stock, Wurzelwerk und Stein, aber die herausforderndsten Bodenbeläge: die Sandpfade.

In kleinen Schritten durch das Land. Eine Bundesstraße mit begleitendem Radweg führt nach Suwałki, der letzten größeren Stadt im Nordosten des Landes. Zum Frühstück gibt es Erdäpfel-Bohnen-Suppe. Die Pol_innen sind die unumstrittenen Europameister_innen im Suppen-Essen: 78 Liter pro Kopf im Jahr!
Kurz nach der Stadtausfahrt verändert sich die Umgebung, das Flachland erwächst zur anspruchsvollen Hügellandschaft. Oben angekommen bedecken Felder und Weideflächen das Land, zwischendurch eingestreute Seen und Mischwälder. Im Vergleich zu den heimischen Rindviechern haben sich die polnischen ihren Kopfschmuck bewahrt.

Ein Dreiländereck.

Start und Ziel verbindet heute ein und dieselbe Landstraße. Der Regen hat sich verzogen, der stürmische Wind ist geblieben. Nach wenigen Kilometern ist das Dreiländereck zwischen Polen, der russischen Exklave Kaliningrad und Litauen erreicht. Ein Obelisk, Warn-/Hinweistafeln, ein Zaun – ein Schnappschuss und zurück auf die Piste. Die Woiwodschaft Podlachien geht in die Woiwodschaft Ermland-Masuren über, landschaftlich ändert sich wenig. Es geht entlang der Rominter Heide, ein ausgedehntes Waldgebiet zwischen Polen und Russland, ausgestattet mit einer artenreichen Fauna. Für autochthone Elche, Hirsche, Wölfe, Luchse fallen Grenzkalamitäten aus.
Der Gołdap-See, der bis über die Grenze nach Russland reicht, liegt ausgebreitet wie eine Decke vor einem völlig ausgestorbenen Campingparadies. Im Wasser baden Wildenten in der Morgensonne.
Schon seit Beginn der Reise kreuzt immer wieder der Green-Velo-Radweg die eingeschlagene Spur, so auch in Gołdap. Diesmal wird das Angebot angenommen. Der Green Velo führt über 1885 Kilometer von Elbląg im Nordwesten an der Ostsee bis knapp an die slowakische Grenze im Südosten des Landes. Immer entlang der Grenze und perfekt ausgeschildert! Somit verlegt sich die heutige Etappe vom Asphalt der Landstraßen auf Schotter- und Waldstraßen durch eine Überdosis an Landschaft. Dörfer müssen durch Abweichungen von der Route extra angefahren werden.

Die Masuren.

Eine Abzweigung vom grünen Band führt nach Węgorzewo, einer Stadt am nördlichsten Zipfel der Masurischen Seenplatte. Wenige Kilometer außerhalb der Stadt liegt Camping Rusałka direkt am Święcajty-See. Der Campingplatz war Schauplatz in Arno Surminskis Roman Polninken, einer tragischen Ost- und West-Liebesgeschichte (Empfehlung!). Teilweise präsentiert sich Rusałka noch wie im Roman zu realsozialistischen Zeiten.
Die Tage wiederholen sich, Instantnudeln vom Gaskocher am menschenleeren Campingplatz. Einzig ein Arbeiter hat sich der Aufgabe gestellt, eine Blechhütte mit frischer Farbe zu versehen. Leiter gibt es keine, um die höheren Lagen zu erreichen, wird ein Podest gestapelt, sehr kriminell!
Auch im Kerngebiet der Masurischen Seenplatte bewegen sich nur wenige Menschen. Gefahren wird auf Asphalt, Sandwegen, Kopfsteinpflaster. Letztere bringen keinen Frohsinn: Im Sand verlaufen sich die Reifen und das grobe Kopfsteinpflaster stammt aus den Zeiten, als die Masuren noch ein Teil Ostpreußen waren.
Giżycko ist eines der Zentren zwischen dem vielen Wasser, und es gilt selbiges wie für die meisten Kleinstädte – schnell wieder raus aus der Stadt und rein ins Land. Ein kleines Nest am Boczne-See sorgt für eine angenehme Überraschung: ein schmucker Campingplatz, darüber hinaus vier geöffnete Gaststätten, eine davon mit Live-Musik unter freien Himmel.
Weitblick ade, der See versteckt sich unter einer dichten hellgrauen Decke. Das Mobilhaus bleibt heute am Platz, Rad und Fahrer besteigen ein Ausflugsschiff in Richtung Mikołajki. Rückblickend ein Fehler: Schifferlfahrten über zwei Stunden haben etwas Grausames – bei Temperaturen um die zehn Grad in kurzer Hose.
Das ehemalige Fischerdorf Mikołajki hat sich zu einem Zentrum entwickelt und ist auf Tourismus gebürstet: Hotelanlagen, Hafenpromenade, Souvenir-Kitsch, Ess- und Trinkmeile. Inzwischen hat sich die Wolkendecke gelüftet und die Temperaturen klettern in den Wohlfühlbereich. Trotzdem hält sich das Bedürfnis zu verweilen in Grenzen. Gemütlich auf Nebenrouten wird die Spur aufgenommen zurück zum Mobilheim. Mr. Google berechnet knappe eineinhalb Stunden. Eine Spazierfahrt. Es kommt anders, kurz nach der Stadtausfahrt endet der Asphalt. Es beginnt eine Tortur auf Sandstraßen, unterbrochen nur von Abschnitten mit dem gefürchteten Kopfsteinpflaster aus Vorkriegszeiten. Durch Wälder und Prärie, ohne Menschen und ohne Tränke, verschlingt die vermeintliche Sonntagsausfahrt ganze drei schweißtreibende Stunden bis zum besten Bier der Welt.

Allgemeines im Büffelland.

Im naheliegenden Wald röhren Hirsche, zwischendurch schnattern die Enten, manchmal springt ein Fisch, und aus der Entfernung bellen Hunde, aber mit Abstand den meisten Lärm verursacht die katholische Kirche mit ihrem unerbittlichen Glockengebimmel. In diesem Sinne Alltägliches: Johannes Paul II. Der polnische Stellvertreter Christi war der am zweitlängsten dienende Pontifex und der erste Slawe auf dem Thron. In Polen wird er verehrt wie ein Popstar. Im ganzen Land sind zahlreiche Straßen und Plätze nach ihm benannt, und es existieren rund 700 Standbilder. Die Sprache. Buchstaben mit Strichen oben und unterhalb, eine Herausforderung für die Wiener Zunge. Nur die Grundfloskeln haben sich eingebrannt: Guten Tag (Dzień dobry). Auf Wiedersehen (Do widzenia). Bitte (Proszę). Danke (Dziękuję). Ein Erfrischungsgetränk (Piwo)! Das Essen. Ein Highlight sind die polnischen Suppen: Żurek (Sauermehlsuppe), Barszcz (Rote-Rüben-Suppe), Flaki (Kuttelsuppe). Die Städte. Die nordostpolnischen (Klein-)Städte geizen mit ihren Reizen, wo der Tourismus aufhört, fängt das Elend an. Die Ortschaften. Nicht immer sind alle Straßen asphaltiert, Hunde sind angeleint, das Eigenheim alarmgesichert und jede fünfte Ortschaft verfügt über einen Sklep. Der Sklep. Gemischtwarengeschäft für den täglichen Bedarf.
Den Masuren wird der Rücken gekehrt, die Räder rollen wieder Richtung Osten zurück in die Woiwodschaft Podlachien. Statt roten Backsteinbauten beherrscht die niedrige Holzbauweise das Landschaftsbild. Die Kreishauptstadt Białystok vermag zu überraschen, fernab von Tourismus-Pfaden präsentiert sich eine lebendige Stadt.
«Dzień dobry!», jede/r wird begrüßt, allein schon um das Sprechen nicht zu verlernen. Heute wird wieder aufgesessen auf dem Green-Velo-Radweg. Ein Verkehrsschild warnt vor Büffeln, es geht durch den Białowieża-Nationalpark, wo Europas letzte wilde Wisente leben. Dummerweise sind die bulligen Viecher sehr scheu, und so bietet lediglich ein Besuch im Białowieża-Reservat die Möglichkeit, ein Exemplar vor die Linse zu bekommen. In Białowieża hat sich ein zarter Büffeltourismus etabliert, und die weißrussische Grenze ist zum Greifen nahe. Einmal schnell zur Grenze gefahren – Lockdown –, die elektrischen Balken sind geschlossen und auch sonst rührt sich nichts. Białowieża war die letzte geplante Station der Reise.
Die erste Etappe der Rückreise führt noch einmal durch Büffel-Revier, eine erhoffte Begegnung bleibt abermals aus. In einem Kaff namens Hajnówka beginnt die Rückführung mit der Eisenbahn. Das Bahnhofsgebäude ist verlassen, aber reizvoll. Zwei Mal umsteigen und nach vier Stunden – es zieht viel Holz und Ackerland am Fenster vorbei – rollt der Zug in Warschau Wschodnia ein.

Warschau.

Die polnische Kapitale kann ihre Reize gut verstecken und präsentiert sich zerstückelt. Kein Wunder, nach dem gescheiterten Warschauer Aufstand hat die deutsche Besatzungsmacht die Stadt fast vollständig zerstört. Die Altstadt wurde nach dem Krieg detailgetreu wieder aufgebaut und 1980 als Weltkulturerbe ausgezeichnet. Trotzdem sind die Brüche nicht zu übersehen. Im revitalisierten Zentrum tobt der touristische Zirkus, außerhalb streiten sich realsozialistische Bauten mit kapitalistischen Hochhausgiganten um die Vorherrschaft. Zwischen Glastürmen und Wohnsilos findet sich eine erdige Kneipe, um die Zeit bis zur endgültigen Heimbringung zu vernichten. 18.55 Uhr, Zug fährt ab! 

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