Es gibt rund 1.000 Parkanlagen in Wien. Nur sehr wenige davon fallen in die Kategorie «urbane Wildnis». Die «Freie Mitte» ist so eine – und ist der geschützten Wechselkröte geschuldet.
Allerlei Grün gibt’s in Wien. Selbst den sudernsten Menschen von Wien entschlüpft gelegentlich eine anerkennende Bemerkung: «Nua zehn Moi hinfoin, und du bist im tiafsten Woid: Des is Wien, des mocht uns kana noch.»
Grün ist nicht gleich Grün, es gibt wahrscheinlich hunderte Kategorien von Grünflächen in der Großstadt. Es gibt die Wälder (von den Buchen-, Eichel-, Hainbuchen- und Föhrenwäldern des Wienerwaldes bis zu den Auwäldern der Lobau). Es gibt über ein Dutzend verschiedene Wiesenarten. Es gibt Wiesen ohne Obstbäume und mit Obstbäumen. Es gibt sogar Wiesen mit Maulbeerbäumen. Um diese ranken sich zwei negative Geschichten: Die erste, erzählt über eine Bekannte von mir, ist jene, dass ein im Cluster uninteressanter Bäume verborgener Maulbeerbaum ausfindig gemacht wurde, der monopolistisch von ihr, und niemandem sonst, abgeerntet wird.
Diese Bekannte ist nicht bereit, mir den Standort «ihres» Exemplars zu verraten. Unter Linken sollte ein solches egoistisches Verhalten verpönt sein. Die zweite Maulbeerbaumgeschichte ist um eine Dimension dramatischer. Vor drei Jahren wurde im Wiener Augarten ein riesiger, als Schattenspender höchst beliebter, in den 1950er-Jahren gepflanzter Maulbeerbaum gefällt. Er strotzte vor Gesundheit. Die Baumpflegefirma, die für dieses Vergehen verantwortlich zeichnete, entschuldigte sich mit dem Hinweis, sie habe die Baumnummern 102 und 107 verwechselt. Die Bestrafung war lächerlich. Die Firma musste irgendwo einen Ersatzbaum pflanzen. 100 Neupflanzungen wären gerechter gewesen.
Beserlpark
Es gibt Äcker, es gibt Weingärten. Es gibt die Donauinsel mit ihren kilometerlangen öffentlichen Badestränden. Es gibt die Fußballplätze und die Friedhöfe. Es gibt rund 1.000 Parkanlagen in Wien: den französischen Garten mit seinem Überschuss an Geometrie (Augarten, Belvederegarten), den englischen Garten mit seiner wohltuenden Verneinung aller Geometrie (Stadtpark, Türkenschanzpark), es gibt die religionsbeladenen Miniaturlandschaften der japanischen Gärten, die Rotzbuben zum Fladern von Bambusstangen einladen. Es gibt den Barockgarten, den Renaissancegarten und den Antipoden dieses vornehmen Stadtgrüns, den so genannten Beserlpark, der ein proletarisches Grätzelzentrum als verlängertes Wohnzimmer migrantischer Familien mit obligatorischem Kinderspielplatz und Fußballkäfig bedeutet (inzwischen leider kinderfreibadlos); das proletarische Element klingt in «Beserl» mit: liederliche Frau, ungemeldete Prostituierte. Es gibt Grün an Hausfassaden, also vertikales Grün, und viel zu wenig Dachgärten. Es gibt die Innenhöfe der Roten Gemeindebauten («Radfahren und Fußballspielen verboten»), den Botanischen Garten, das Arboretum, das Alpinum.
Es gibt renaturierte Bach- und Flussuferzonen. Es gibt die Überreste der Internationalen Gartenschaumessen, etwa in Oberlaa. Dort machte im Jahr 1974 der Widerstand prominenter Künstler:innen klar, dass in der Agenda «Grünflächen» immer schon antagonistische Interessen gegeneinander stießen. Fritz Wotruba stellte die aufwändige Gestaltung des Grünraums in städtischer Randlage prinzipiell in Frage. Tatsächlich stellte sich der kalkulierte Publikumserfolg nicht ein. Roland Rainer und Gustav Peichl kritisierten, die öffentlichen Gelder hätten besser zur Begrünung der Innenstadt verwendet werden sollen.
Die Schamanen des Amorphen
Es gibt den Tiergarten, der noch nicht ganz versiegelt ist, es gibt die Schrebergärten, es gibt Golfplätze, es gibt Vorgärten (nicht nur in der Vorgartenstraße), es gibt Hundezonen – es gibt den Nachlass des Friedensreich Hundertwasser, der eine Identität von Hundertwasserarchitektur und Naturgrün behauptete, weil beiderseits das Fehlen der geraden Linie konstituierend war. «Die gerade Linie führt zum Untergang der Menschheit», predigte Hundertwasser schon 1953. Ein halbes Jahrhundert später predigte meine politische Mischpoche zurück, Hundertwasser sei ein Esoteriker – ein Schamane des Amorphen. Dass er aus Dächern Naturlandschaften machte, war für uns entweder großbürgerlich-luxuriös oder für den Klassenkampf nicht relevant. Auf die Idee, die freie Zugänglichkeit der grünen Begegnungszonen auf den Dächern sei eine kompensatorische Maßnahme zugunsten ökonomisch benachteiligter Städter:innen, die sich ein Wohnen mit Aussicht, und sei’s auf den Schneeberg, nicht leisten konnten, kamen damals erst wenige. Die Gemeinschaftsdachgärten – wir befinden uns in einer Fiktion – sind Schulen der Selbstorganisation der sich bildenden Hausgemeinschaften.
Höchste Ebene ohne Kommerz
Schulen der Selbstorganisation? Ich erlaube mir, das Schwärmerische dieser Fiktion zu eskalieren. Ein Bündnis von Klimabewegung, Mietrechtsbewegung und Gewerkschaften «erlaubt» der Stadtregierung einen gewissen Despotismus auf höchster Ebene. Dieser durchkreuzt die Profitinteressen des Immobilienkapitals, indem es die Investor:innen zu zweierlei Anstrengungen zwingt. Von «höchster Ebene» (Stadtregierung) werden nur jene Investor:innen als Geschäftspartner:innen im Neubaubereich zugelassen, die die «höchste Ebene» (Dach) einerseits mit modernster Solartechnik, andererseits mit allem, was eine Begrünung braucht, auf eigene Kosten ausstatten. Das wäre aber kein Geschenk der privaten Bauinvestor:innen an die Allgemeinheit, sondern ein Ausgleich für die Infrastrukturgewinne. Diese sind umso größer, je mehr öffentliche Gelder eine Stadt für all jene Infrastrukturmaßnamen ausgibt, ohne die das Leben in den Neubauten nicht funktionieren könnte. Die öffentliche Hand finanziert die Anbindung des Neubauviertels an den öffentlichen und autogerechten Verkehr, sie finanziert die Kindergärten und Schulen, ein Kulturzentrum und eine städtische Bibliothek, sie finanziert sogar einen Stadtsee, und sie finanziert den Schatten im Stadtteil, ohne den die Megahitze der kommenden Periode nicht auszuhalten wäre.
Unsere willkürliche Liste der Naturflächenkategorien endet hier; genau dort, wo die Protagonist:innen der modernsten und jüngsten Kategorie, nämlich die urbane Wildnis, sich an Karl Marx und seine Kritik der Warenförmigkeit halten können, um die Entwicklung der Stadtbegrünung zu begreifen. Das gilt eigentlich für alle Staaten des reichen Nordens und Westens. Die Wildnis führt zum Untergang des Neoliberalismus, könnte mensch, angelehnt an Hundertwasser, formulieren. Diese rötlich schimmernde Prognose basiert auf der Erkenntnis, dass immer mehr Menschen die Logik des spätkapitalistischen Städtebaus kapieren, weil sie im Wohnungswesen sichtbarer ist als in anderen Bereichen.
Lob des Ungeplanten
Nach Mario F. Broggi definiert sich Wildnis als jener Raum, in dem wir jede Nutzung und Gestaltung bewusst unterlassen, in dem sich Ungeplantes und Unvorhergesehenes entwickeln kann. Nicht, dass es im Territorium Wiens an aufregend naturnahen Landschaften mangeln würde. Kaum eine Touristin, kaum ein Tourist käme auf die Idee, den Wienerbergteich, dessen verschilfte Zonen und dessen ihn umgebende Dickichte als künstlich errichtetes Erholungsgebiet zu deuten. Thema der vorliegenden Abhandlung ist vielmehr das fehlende Wagnis zur Wildnis in den Stadterweiterungsgebieten und in älteren Wohnhausensembles, egal ob kommunal oder privat. Drei Faktoren erschweren in Wien systematisch das Ausbreiten von künstlich initiierten Biotopen vor der Haustür, zwischen den Häusern und auch auf den Dächern: Staat, Markt und Zivilgesellschaft.
Die Haltung zur nahen Wildnis spaltet die Wiener Bevölkerung. Ein Teil liebt den kurzen Rasen, das geschniegelte Behübschungsgrün und das Schotterbeet für die Blumen. Wachsen lassen, was wächst, gilt als Vandalismus. Die Hummeln, die Wespen die Nacktschnecken, die Wühlmäuse und die Spinnen sind entweder gefährlich oder ekelig. Der Staat in der Erscheinungsform der Stadtverwaltung ist bemüht, die Rasenmäherfraktion nicht mit übertriebenem gärtnerischen Innovationsgeist zu verschrecken. Dass der Schrebergartennachbar jeden dritten Tag seinen Schreberteppich mäht, kann man ihm nicht immer zum Vorwurf machen. Jede Amsel schafft locker zehnmal mehr Dezibel als der neue Mähroboter, der nicht einmal «Mäh» sagt. Die Existenz der Rasenmäher-Roboter ist indes von einer anderen Seite bedroht: Der derzeitige Hype von Kies- und Schottergärten lässt manchen Mähroboter arbeitslos werden. Der ökologische Nutzen und die ästhetische Qualität der künstlichen Gegenintelligenz der automatisierten Rasenmäher halten sich die Waage. Beides liegt im Bereich unter Null.
Das Stadtgartenamt meint, gärtnerisches Wissen in die Bevölkerung zu verpflanzen. Beim Schotter verflüchtigt sich die Pädagogik. Die Stadt springt auf einen populären Trend auf, das Ergebnis ist im neugestalteten Reumannplatz (10. Bezirk) zu betrachten: umfangreiche Schotterbeete, die von den Platztauben okkupiert wurden. Von drei Pro-Schotter-Argumenten der Offiziellen dürfte nur ein einziges stimmen: Schotterbeete sind relativ pflegeleicht und dauerhaft. Dass sie geschmackvolle Zeitgemäßheit ausdrücken, ist Magistrats-PR. Ökologisch sind Schottergärten problematisch, denn sie bieten Insekten oder Kleintieren wie Vögeln und Reptilien kaum Unterschlupf. Außerdem heizt sich der Schotter im Sommer extrem auf. Die Schotterfirmen werden es nicht schaffen, sich darüber hinweg zu schwindeln.
Wer gewinnt den Goldenen Celsius?
Spaziert man durch die Neubaugebiete, könnte man glauben, sie befänden sich im Stadterneuerungswettbewerb um den Goldenen Celsius, einen von den zivilgesellschaftlichen Vereinen gespendeten Preis für die Erzeugung der größten Glut in the City. In der Hitze des Gefechts, buchstäblich verstanden, punkten Wettbewerbsteilnehmer:innen durch eine flächendeckende Asphaltversiegelung des Bodens, während ein anderes Quartier mit Glasfassaden auftrumpft, die uns zeigen, wo der Bartl die Glut holt. Die politische Ökonomie des Privateigentums an Boden enthüllt das Geheimnis des Zusammenhangs von Mangel an grünen Oasen und leistbaren Wohnungen.
Der Bausektor ist zu schwer für den Planeten geworden. Wenn sein Rückbau im Rahmen einer Transformation der Gesamtgesellschaft nicht klappt, werden die Krähen den Laden übernehmen. Der Ingenieur Frei Otto, der mit seinem Münchner Olympia-Zeltdach eine kühne Hommage an die Baukunst realisiert hat, sucht im Innersten des Menschen nach Ursachen der Bauwut. Wenn der Mensch nichts bauen müsste (um die Familie vor dem Wetter, vor den Feinden, vor den Tieren zu schützen), würde er trotzdem überall, immer und unter allen Bedingungen etwas bauen wollen, sagt er. Erinnern Sie sich an die Kinderzeit in der Sandkiste? Dann wissen Sie, wovon die Rede ist. Die Sandkiste ist die wahre Wiege der Hypotrophie des Bauwesens. Die Gesellschaften sind vom Bauwahnsinn befallen, die einzig konsequente Therapie wäre, allen städtischen Boden in die Hände der Allgemeinheit zu legen. Die klimaschädliche Herumfliegerei wird potenziell von der Flugscham eingeschränkt, von einer Bauscham habe ich noch nichts vernommen. Ein gewisser Ehrgeiz des Bauens ging auch den Schöpfern des großartigen Wohnbauprogramms des Roten Wien nicht ab. Absurd, hier von Bauwahnsinn zu reden. Denn das Rote Wien baute nur das, was das Volk brauchte, billige Wohnungen in einem nicht krankmachenden Ambiente, mit hundert Mal mehr Grün als in den Gründerzeitvierteln.
Die Voraussetzung dafür war, dass sich die Stadt die Flächen aneignete, die sie für ihr Sozialwohnungsprogramm benötigte. Innert kurzer Zeit vergrößerte sich der Grundbesitz der Stadt Wien von 5.487 ha auf 57.670 ha, und Anfang 1924 war die Stadt bereits der größte Grundeigentümer. Sie verfügte nun über 2,6 Millionen Quadratmeter Bauland.
Heute wird es umgekehrt gemacht. Die Stadt verhökert sich selbst; die profitabelsten Neubauflächen, etwa die riesigen, von den ÖBB nicht mehr gebrauchten Bahnhofsareale dürfen von privaten Investor:innen verwertet werden. Ihr Desinteresse an dem, was nach dem Bauende mit den Wohnungen passiert, ist strukturell. Aus ihrer Perspektive könnten die neuen Wohnungen auch ständig leer bleiben. Im Idealfall ist Städtebau für sie eine einzige Kapitalverwertungsveranstaltung. Die daraus resultierenden Spekulationsgewinne müsste der Staat abschöpfen. Mit diesen Einnahmen könnte sich die Stadt den Boden zurückholen und ihr Wohnungsprogramm, dem bis zu ihrem gewaltsamen Stopp 1936 drei Sterne gebührten, viersternig fortsetzen.
Im Dickicht der «Freien Mitte»
Mit vier Sternen (wir begeben uns abermals in eine Fiktion) müssten Neubaugebiete ausgezeichnet werden, die einen zu bestimmenden Prozentsatz ihrer Grünflächen mit urbanen Wildnissen ausstatten. Wohnungsnahe Biotope schaffen Kühle, verhelfen von der Natur entfremdeten Menschen zu einem neuen Naturgefühl, fördern die nachbarschaftliche Kommunikation (keine Wiener Stadtwildnis ohne Bankerl!), perfektionieren den Biologieunterricht (hunderte Arten von Pflanzen und Insekten als Anschauungsobjekte direkt vor der Haustüre). Urbane Wildnisse sind Orte der Befeuchtung ohne Beleuchtung. Letztlich sind sie die am wenigsten überwachbaren Punkte des öffentlichen Raums. Man kann nicht jeden Ast mit einer Kamera bestücken. Vielleicht ist es dieser Aspekt der «Unsicherheit» oder des Kontrollverlustes, der die Investor:innen zögern lässt, Landschaftsplanungen in ihr Städtebauprojekt zu integrieren.
Sie spüren es: Jedes Dickicht in der Stadt ist eine Intervention gegen den Beton. Der Gebäudesektor gehört eindeutig zu den Bad Guys des Klimawandels. Die Architektin Lamia Messari-Becker hat dafür folgende Formel aufgestellt: «30 Prozent des CO2-Ausstoßes, 40 Prozent des Energieverbrauchs, 50 Prozent des Ressourcenverbrauchs, 60 Prozent des Abfallaufkommens und 70 Prozent der Flächenversiegelung gehen auf den Bausektor zurück.»
Jedes Dickicht in der Stadt ist eine Porr- und Strabag-freie Zone. So gesehen verdient die Parkanlage «Freie Mitte», die auf dem Nordbahngelände im zweiten Bezirk entsteht, unseren Respekt. Die Freie Mitte wartet mit einer Überraschung auf. Der aufregendste Teilbereich der «Freien Mitte», die 14.000 Quadratmeter große Stadtwildnis, ist ab sofort öffentlich zugänglich. Ein Wasserturm, der Rest einer Eisenbahnbrücke und verwachsene Gleise erinnern an die Nutzung des Geländes, bevor es zur viele Jahre lang nicht betretbaren «Gstettn» wurde. Im Interesse der kühlenden Beschattung ist die Stadtverwaltung über ihren Schatten gesprungen. Besser, sie musste springen, denn die vom Aussterben bedrohte Wechselkröte hat sich bereits vor den Menschen am Nordbahnhof angesiedelt und darf nicht vertrieben werden.