Die bildende Künstlerin Ulrike Möntmann beschäftigt sich in ihrem Projekt Parrhesia mit weiblichen Drogenabhängigen in europäischen Gefängnissen und Therapieeinrichtungen. Und macht dabei die Lebenssituation dieser Frauen zu einer öffentlichen Angelegenheit.
Am Anfang stand eine Einladung an Ulrike Möntmann, in der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Vechta in Niedersachsen, Deutschland, ihre künstlerische Arbeit zu zeigen. Die in Wien und Amsterdam lebende und arbeitende Künstlerin nahm an und schlug ein neues Projekt mit Inhaftierten vor. Die Empfehlung der Anstaltsleiterin, welche Frauen teilnehmen könnten, fiel auf Drogenabhängige. Möntmann war zu diesem Zeitpunkt zwar klar, dass viel Drogengebrauch im Gefängnis passiert. «Aber wer sind eigentlich diese drogenkranken Frauen in Gefängnissen? Warum sind sie so lange dort? Ich hatte keine Idee und habe mich diesem Thema dann immer mehr genähert», erzählt die bildende Künstlerin vom Beginn ihrer Beschäftigung mit weiblichen Drogenabhängigen in europäischen Gefängnissen und Therapieeinrichtungen.
Das war 1997 – 26 Jahre später sucht ihre kunstbasierte Forschung weiterhin nach Antworten auf diese Fragen. Bei Möntmanns aktuellem Projekt Parrhesia behielt sie den Fokus auf drogenabhängige Frauen bei und betonte ein weiteres Ziel stärker: die Betroffenen zu ermutigen, ihre Lebensgeschichte auszusprechen und so die Sachlage von drogenkranken Straftäterinnen zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen, die nicht nur die Justiz, sondern alle etwas angeht.
Sich das Wort nehmen
Aufstehen und sprechen, auch wenn es mit Risiko verbunden ist: Möntmann hat für das Projekt, bei dem sie 2022 zwei Feldforschungen durchführte, das altgriechische Wort «parrhesia» für «über alles reden» als Schlüsselbegriff herangezogen und sich auf Michel Foucaults Verwendung des Begriffs bezogen. In der Konzeption des Philosophen ist «parrhesia» die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, auch wenn man dafür sanktioniert werden kann – ein Wahrsprechen als emanzipatorische Handlung. «Der Mut, etwas nicht einfach hinzunehmen, sondern zu sprechen, macht die Parrhesia aus, daher nennt Foucault sie speech activity», beschreibt Möntmann. «Es wird kein Anspruch erhoben, dass es jemandem nach dem Sprechen besser geht – aber hier im Gefängnis geht es um den Willen, zu sagen: Ich benenne meine Position und verändere damit die Absolutheit der gesellschaftlichen Verurteilung. Gerade bei drogensüchtigen Frauen in Gefängnis und Therapie, die gebückt unter ihrem Schicksal gehen und von der eigenen Schuld an der Situation ausgehen, ist das sicher auch eine politische Handlung.»
Diese Schuldposition zu hinterfragen ist einer der Ansprüche des Projekts. Ausgeführt hat Möntmann die zwei Pilotstudien zusammen mit ihrer wissenschaftlichen Assistentin Stefanie Elias im Schweizer Haus Hadersdorf (SHH), einer gemeinnützigen Einrichtung für stationäre und ambulante Therapie bei Abhängigkeitserkankungen in Wien, und in der Justizanstalt Schwarzau, Strafvollzugsanstalt für weibliche Häftlinge in Niederösterreich.
In solchen Institutionen würden Frauen einander meist nicht von ihrem Schicksal erzählen, weil sie – wie in jeder Zwangsgemeinschaft – darauf achten, sich selber zu schützen, beschreibt Elias. Die Schauspielerin und Sprecherin machte im Zuge des Projekts mit den Beteiligten auch Sprachübungen aus der Schauspielausbildung, um nach Formen der «speech activity» zu suchen. Bei den Projekttagen sei es dann zu Momenten der Verbundenheit gekommen, als die Frauen in der Gruppe Persönliches schilderten und entgegen der Vorannahme «Ich bin selber schuld an dem, was mir widerfahren ist», realisierten, dass anderen Ähnliches passierte, meint Elias.
Bei jeweils zehn Workshoptagen in den Institutionen stellten Möntmann und Elias den Teilnehmerinnen das Konzept und die Rahmenbedingungen vor und starteten dann mit einer Methode Möntmanns, um biografische Ereignisse zu rekonstruieren: der Matrix-Methode, bei der die Frauen aus rund 260 vorgedruckten Begriffen für sie passende wählen und damit Sätze zu ihrem Lebensweg entwerfen und aufkleben, negativ oder positiv besetzte Wortcollagen, auf jeden Fall aber ein nüchternes Protokoll der Erlebnisse. «Emotionsisolation» ist wichtig, sagt Möntmann: «Wenn im Gespräch die Frage ‹Hast du Gewalt erlitten?› auftaucht, dann ist es schwer, das einer wildfremden Person zu sagen. Ich merkte aber, dass es über diese Worte geht. Sobald sie kleben, ist das Erlittene besprechbar – als sachlicher Text, mit dem frau dementsprechend sachlich umgeht.» Mit drei Jahren die erste Misshandlung, mit 13 Jahren Heroin, Prostitution, Selbstmordversuch, langjährige Inhaftierung: harte Kost, die mit «kalten Biografien», wie Möntmann die Satzcollagen nennt, sagbar wird.
Zunächst lasen die Frauen ihre Sätze laut im isolierten Workshopraum vor, dann nahmen die Projektleiterinnen sie dabei auf Audio auf. Dabei verknüpften die Frauen Erlebnisse auch mit Orten, an die Möntmann und Elias fuhren, um Fotos zu machen. «Mit der Veröffentlichung und dem Zeigen der Orte wird das Gesagte in die Welt gesetzt», sagt Möntmann. «Wenn man und frau jetzt die Texte anhört oder die Bilder von normalen Wohnhäusern oder einer bekannten Gegend sieht, dann dringt das Thema auch für Leute, die mit suchtkranken Frauen nichts zu tun haben, plötzlich in die eigene Realität hinein.»
Suchtgeschichten sichtbar machen
Dass die betroffene Gruppe an den Rand der Gesellschaft verbannt, ihre Sucht aber ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist, wird beim Projekt Parrhesia durch quantitative Forschung sichtbar, die Möntmann und Elias mit den Biografien verknüpfen und damit Faktoren hinter den Suchtgeschichten vergleichbar machten. Sie inventarisierten die Strafregister der Frauen, visualisierten in Diagrammen ihre Straftaten – und erfassten in Gegenüberstellung auch die Taten, die Frauen selbst erlitten. An der ersten Stelle stehe sexuelle Gewalt im Kindesalter. «Was heraussticht, ist, dass im Leben der Frauen schon in jungen Jahren massive Gewalt erfahren wird, die selten verfolgt wird. Traumatisierung führt nicht selten zu Drogenkonsum», erwähnt Elias ebenso wie den «Drehtüreffekt»: «Die Frauen, mit denen wir arbeiten, haben selten nur einmal in Haft gesessen. Da sich an ihrer Situation im Gefängnis nichts verbessert, ist die Rückkehr in Beschaffungskriminalität nahezu vorprogrammiert.»
Die erhobenen Daten sollen ein Bild von Systemen und Regulierungen aufzeigen, mit denen drogenkranke Frauen ringen: Was funktioniert gut, was weniger? Das betrifft Einrichtungen – Therapiemöglichkeiten sind meist kurz, wenn die Weisung Therapie statt Strafe ist; Schwarzau ist das einzige Frauengefängnis in Österreich – und dass den Bedürfnissen drogenkranker Frauen wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. In der Forschung ist die Problematik drogenabhängiger Frauen im Strafvollzug bisher vernachlässigt worden, schildert Möntmann. Dabei sei im Kontrast zur marginalen Zahl drogenkranker Frauen europaweit eine erhebliche Prozentzahl inhaftierter Frauen drogensüchtig: In vielen europäischen Haftanstalten, in denen Projektausführungen stattfanden, gehen sie von 65 Prozent aus. «Es gibt bei den Biografien große Unterschiede zu Männern: warum Frauen suchtkrank sind, warum sie straffällig werden», sagt Elias. Parrhesia eröffnet auch diesen genderspezifischen Aspekt.
Das Online-Archiv «Outcast Registration» sammelt die Ergebnisse und führt sie zusammen. Auch die 18 Biografien von drogensüchtigen Frauen in fünf mitteleuropäischen Ländern sind dort einzusehen, die noch Teil des audiovisuellen Vorgängerprojektes Möntmanns mit dem Titel THIS BABY DOLL WILL BE A JUNKIE sind, ihrer Dissertation an der Universität für angewandte Kunst. Die Homepage wird inzwischen mit den Forschungsergebnissen der «Parrhesia»-Projekte erweitert, die aktuelle Feldforschung begibt sich nun auf die Nord-Süd-Achse Europas. Als nächste Station ist Norwegen im Gespräch; auch wenn es sich als schwierig erweist, in die geschlossenen Räume von Gefängnissen zu kommen, soll das Projekt länderübergreifend sein. «Wir sind gespannt auf den Vergleich verschiedener Vollzugssysteme und wie sich diese auf das Leben der Insassinnen auswirken», sagt Möntmann. Auch im kulturellen Raum soll Parrhesia landen: «Wir möchten das Material ausstellen und damit diese Bevölkerungsgruppe im Kulturraum anwesend sein lassen.»