Verkehrsbetriebe machen Jagd auf Obdachlosetun & lassen

Verkaufsverbot in U-Bahn

Nicht von der Wiener U-Bahn ist hier die Rede. AUGUSTIN-VerkäuferInnen „im Dienst“ sind in Wiener U-Bahnen ohnehin kaum zu sehen. Die Wiener Verkehrsbetriebe haben dem Herausgeberverein Sand & Zeit von Projektstart an eine Verkaufstätigkeit auf Bahnsteigen und in den Zügen nicht gestattet. Die Augusteln mussten sich von vornherein andere Bereiche des öffentlichen Raumes erobern, um ihr Blatt zu kolportieren. Nicht so in Berlin. Dort mach(t)en die Straßenzeitungs-Leute ihren Hauptumsatz in den U-Bahnen. Stürzen die Berliner Verkehrsbetriebe die Straßenzeitungen der deutschen Hauptstadt (und ihre Verkäufer) damit in eine Existenzkrise?

„Entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Klaus, ich bin 36 Jahre alt, obdachlos und verkaufe die motz. Die Zeitung kostet zwei Mark. 1,50 DM geht an mich als Soforthilfe und 50 Pfennig an die Zeitung, um die nächste Ausgabe zu produzieren.“

Diesen Verkaufsspruch kennt in den Berliner U-Bahnen so gut wie jeder, der regelmäßig die öffentlichen Verkehrsmittel nutzt. Doch nach dem Willen der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) soll diese Erscheinung der Armutsentwicklung in der Hauptstadt aus dem Bereich des öffentlichen Nahverkehrs verschwinden. In einem Brief an den Herausgeberverein des Straßenmagazins motz kündigt das Unternehmen an, mit sofortiger Wirkung jeden Verkäufer des Blattes von den Bahnhöfen zu vertreiben. In dem Schreiben heißt es: „Wir dürfen Ihnen mitteilen, dass unser Betriebspersonal angewiesen ist, (…) den Verkäufern des Magazins motz, dessen Verkauf in den Fahrzeugen der BVG wie auch in den (…) Bahnhofsbereichen zu untersagen und dieses Verbot auch durchzusetzen.“

Mit diesem Schritt vollzieht das Unternehmen gegenüber der Obdachlosenzeitung eine radikale Kehrtwende. Für die Betroffenen ist der jetzige Kurswechsel eine Katastrophe.

„Sollte das Vorhaben tatsächlich umgesetzt werden, steigen in Berlin nicht nur die Obdachlosenzahlen, sondern dann ist auch mit einer Zunahme der Beschaffungskriminalität zu rechnen, denn viele Drogenabhängige mussten in der Vergangenheit durch den Verkauf der Zeitung nicht mehr der Beschaffungskriminalität nachgehen“, weiss Helmut Gispert, Vorstandsmitglied von motz & Co. Der Obdachlosenselbsthilfeverein betreibt neben der Zeitung auch das bundesweit einzige selbstfinanzierte Wohnprojekt für obdachlose und suchtkranke Menschen. „Wenn der U-Bahn-Bereich als Verteilerstelle ausscheidet, ist die Zeitung nicht mehr zu halten. Dann werden wir 20 Menschen von einem Tag auf den anderen auf die Straße setzen müssen“, sagt Gispert. In einem Schreiben an die BVG kündigten die Zeitungsmacher an, notfalls vor das Verwaltungsgericht zu ziehen.

Unterdessen schaltete sich auch Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD) in den Konflikt ein. In einem Brief an die Geschäftsführung der BVG heißt es: „Zu einer Metropole wie Berlin gehören leider auch arme und obdachlose Menschen, doch durch Vertreibung aus dem öffentlichen Raum und damit aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit ist diesen Menschen nicht geholfen. Zeitungsprojekte dieser Art gibt es in einer Vielzahl von internationalen Metropolen. Der Verkauf bietet den Obdachlosen die Möglichkeit, auf legale Weise etwas zu ihrem Lebensunterhalt zu verdienen. (…) Ich bitte Sie im Interesse der Obdachlosen, diesen Beschluss zu überdenken und zurückzunehmen“, so Strieder.

Von Wien bis Berlin derselbe Quark oder Topfen: Es ist Mode geworden, die Armut zu „bekämpfen“, indem man die Armen unsichtbar macht, sie aus immer mehr Bereichen des öffentlichen Raumes ausgrenzt. Leider wird das Märchen, dass dadurch unsere Städte für die Anständigen sicherer würden, von den meisten geglaubt.


Quelle: junge welt, Berlin, 28. August und 3. September 99

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