Vom Ende – Epitaph für First LadyDichter Innenteil

Illustration: Thomas Kriebaum

Gottfrieds Tagebuch

15. 11.
Lange habe ich hin und her überlegt, wie ich diesen Tag am besten niederschreiben soll. Viel zu viele Gedanken umzingeln mich geradezu und möchten in der folgenden Niederschrift unbedingt Erwähnung finden. Wenn es nur nicht so schwer wäre. Denn ich schreibe dieses Tagebuch, folglich auch diesen Beitrag, erst am 5. 12., und selbstverständlich kommen auch wieder viele negative Empfindungen zurück. Mein allgemeines Wohlbefinden erweist sich so nebenbei als äußerst zwiespältig. Der an sich sehr einfache Weg zur Nahversorgerin meines Vertrauens findet derzeit weniger häufig statt und ist mir nicht mehr so wichtig. Die allgemeine Wetterlage findet bei meiner latent um mich schleichenden Depression ­regen Anklang. Da ich noch nicht erahnen kann, wie diese Geschichte weitergehen soll, zitiere ich jetzt einfach, weil ich es möchte, einen gewissen Karl Valentin, der da sprach wie folgt: «Wer am Ende ist, kann von vorn anfangen, denn das Ende ist der Anfang von einer anderen Seite.» Aber wenn ich jetzt anfange, über das Ende zu reden, dann stellt sich natürlich umgehend die dringende Frage in den Raum, wo das enden soll.
Inzwischen hat sich eine erkleckliche Menge an Erinnerungen in meinen Gedan­kengängen eingefunden. Jetzt wäre es vermutlich sehr hilfreich, wenn auch noch die passenden Worte zur Verfügung stünden. Eigentlich möchte ich es möglichst kurz machen, aber das wäre dem Ereignis nicht angemessen. Es war nämlich ein gemeiner und schleichender Prozess, der dazu führte, dass First Lady, die Katze, deren Untermieter ich ein paar Jahre lang sein durfte, aufgrund eines multiplen Organdefektes am 15. 11. 2022 eingeschläfert werden musste. Die letzte Woche war wirklich sehr schlimm. Ich konnte kaum noch schlafen und hatte in der Vet-Med-Uni so viele Fragen an die nette Ärztin, und schlussendlich einigten wir uns darauf, dass man leider nicht wissen kann, was sie in den ersten zwei Jahren ihres Lebens durchgemacht hat. Ich mache übrigens immer wieder Pausen beim Schreiben, weil niemand Anspruch auf den Platz unmittelbar vor der PC-Tastatur erhebt. Sie war also erst sechs Jahre alt, oder jung, je nachdem, wie man das sehen möchte. Ich konnte also noch kein Futter mit dem Hinweis «7+» für sie erwerben. Aber es ist noch einiges an Futtermitteln im Kasten und außerdem soll vor Weihnachten unbedingt eine Nachfolge gefunden werden. In dieser Beziehung bin ich guten Mutes, ­obwohl First Lady nach wie vor in meinen Gedankengängen herumgeistert. Dieses Recht steht ihr natürlich umfänglich zu, denn wie es schon in der Verfassung heißt: «Die Würde der Katze ist unantastbar!» Es kann aber auch sein, dass ich mich irre.
Auf dem Weg zum Bett, der etwa 0,5 Sekunden dauert, fällt mir auf, dass dort etwas fehlt. Niemand, mit dem ich um Polster oder Decke kämpfen muss. Niemand, der sich heimlich einschleicht, wenn ich mich zur Ruhe gebettet habe. Es wird auch bei intensiverem Nachdenken nicht einfacher. Mein Blick schweift über Teile meiner 22,08 qm großen Bleibe und da nehme ich plötzlich den circa 20 cm großen Teddy wahr, den ich vor langer Zeit einmal als Geschenk für First Lady erhielt. Ich lege ihn zu mir ins Bett, doch er bewegt sich nicht, wenn ich ihn streichle. Und weil gerade im Moment nichts anderes los ist, geht das Kopfkino in Betrieb. Was mich schlussendlich zur Musik und ihrer Auswahl bringt. Früher hat First Lady dabei geholfen. Ob ich das auch alleine kann? Pink Floyd mit «Wish You Were Here» soll es sein.