Lokalmatador Nr. 541: Sepp Wanderer
Sepp Wanderer pflegt im Gemeindebau die Wien-Liebe, den Hof und die Nachbarschaft.
Vor den Fenstern seiner Erdgeschosswohnung, die nach Norden gerichtet sind, wachsen vier Zwetschkenbäume und ein Nussbaum. Der passionierte Radfahrer und Gartler freut sich: «Die habe ich bei meinen Ausflügen ins Weinviertel auf einer Gstettn mit einer Schaufel vorsichtig ausgegraben, in meinen Rucksack gepackt und hier wieder eingegraben.»
Höbersbrunn
Sepp Wanderer stammt ursprünglich aus dem Weinviertel, aus der 300-Einwohner:innen-Gemeinde Höbersbrunn bei Mistelbach. Nach dem Abschluss seiner Fleischer-Lehre ging er in die große Stadt. In der Wurstfabrik Magrutsch im zweiten Bezirk fand er Arbeit. «Ich habe mich in Wien von Anfang an sehr wohl gefühlt.»
Der heute 82-jährige Bewohner eines Gemeindebaus zwischen Donaukanal und Prater ist einer, der auch in schweren Stunden an das Gute glaubt. Und ja, einer wie er, einer aus der Working Class, weiß sehr genau, wie schwer sich schwere Stunden anfühlen können. Das Schöne ist: Seine Saat geht überall auf. Freundlich grüßt ihn eine junge Nachbarin, während er wieder einmal im Hof Hof hält und auf den Grünflächen selbst Hand anlegt. Dann möchte sich ein ebenso älterer Herr erkundigen, wie es denn so gehe.
Saat, gut
Vor seinen südseitigen Fenstern hat Sepp Wanderer unter anderem Malven gepflanzt. «Die Malven habe ich aus einer verwilderten Kleingartenanlage in der Wehlistraße», erzählt der umtriebige Mieter. Er freut sich über ihr Wachstum und die positiven Reaktionen aus der Nachbarschaft. Niemand hat sich darüber beschwert, dass er regelmäßig Blumen gießt. Und die Mitarbeiter:innen von Wiener Wohnen hätten ihn mit guten Tipps versorgt, anstatt ihm mit irgendwelchen Paragraphen zu kommen. «Sie haben mich sogar in ihrem Buch verewigt.»
Stiege 11, Tür 1 im Franz-Mair-Hof in der Leopoldstadt: Hier wohnt Sepp Wanderer seit bald sechs Jahrzehnten. In den Kinderzimmern seiner drei längst erwachsenen Söhne archiviert er alle Fundstücke, die er zur Architektur- und Kunstgeschichte Wiens ausgegraben hat.
Weikendorf
Natürlich weiß der Mieter auch über den Namensgeber des Mair-Hofs zu berichten: «Der Tondichter Franz Mair wurde 1821 in Weikendorf geboren, gründete im Jahr 1863 den Wiener Schubertbund, dem er bis 1890 als Chormeister vorstand. Er starb 1893 in Wien.»
Der vordere Teil der großen Wohnhausanlage zur Schüttelstraße hin wurde bereits in den 1930er-Jahren errichtet, der hintere Teil zur Hauptallee hin erst am Ende der 1950er-Jahre. Lässt sich bei Sepp Wanderer schwarz auf weiß nachlesen, ist alles in einem der unzähligen Büroordner abgelegt.
Sein Interesse an Wien hat viel mit jener Arbeit zu tun, die er am längsten ausgeübt hat, erklärt Sepp Wanderer. «Ich habe einen Entstörer beim Telegraphenbauamt gekannt.» Telefonieren wurde zu jener Zeit noch ausschließlich von amtswegen geregelt. Enstörer:innen konnten angefordert werden, wenn es ein Problem mit dem Festnetz-Telefon gab (mobile Telefonie war noch nicht). Der Entstörer verriet ihm jedenfalls: «Heast, die suchen bei uns Leut’.»
Mit 24 sattelte der Fleischhauergeselle beruflich um: «Wir haben für Firmen Nebenstellen-Anlagen montiert, dorthin die Leitungen gelegt, auch gelötet und Wände vergipst.» So lernte er Wien hinter den Fassaden kennen: «Unser Trupp war für die 90er-Rufnummern zuständig. Wir haben vom siebenten über den 14. und 15. Bezirk bis nach Mauerbach und sogar nach Mödling gearbeitet. So durfte ich viele schöne Häuser auch von innen betrachten.»
Das Interesse an der Stadt und ihren Facetten ist dem sportlichen Radfahrer, der unter anderem die Großglockner-Hochalpenstraße besiegt hat, auch nach seiner Pensionierung im Jahr 1998 geblieben: «Meine Frau wusste, dass ich keiner bin, der gerne zu Hause sitzt. Sie hat mir daher zum Einstand ein dickes Buch über den Wiener Jugendstil geschenkt. Und ich bin dann mit dem Radl zu jeder Adresse geradelt, um mir selbst ein Bild zu machen.»
Zentralfriedhof
So entdeckte Sepp Wanderer die wunderbare Welt der Jugendstil-Architekten und ihrer Schüler:innen. Bald steuerte er auch alle namhaften Gemeindebauten Wiens an, entdeckte en passant die Kunst für sich und recherchierte dazu auf dem Zentralfriedhof, anderen Wiener Friedhöfen und im Internet.
Heute macht sich der Wien-Fan auch Gedanken, was einmal aus seinem gesammelten Wissen in all den Ordnern werden soll: «Meine Söhne leben ihr eigenes Leben, das ist in Ordnung. Dennoch wäre es schade, dass, wenn ich nicht mehr bin, alles zum Altpapier wandert.» Bei Interesse, bitte melden!