Seit eh und je ist die Blockade von Verkehrswegen ein beliebtes Mittel, um politische Interessen durchzusetzen. Sie vereint peloponnesische Krieger mit den Aufständischen des oberösterreichischen Bauernkriegs und den Klimaaktivist:innen der Letzten Generation. Eine Spurensuche von Wien bis Nicaragua.
8 Uhr morgens, Wiener Westbahnhof. Unterm Berufsverkehr bebt der Gürtel – und verstummt plötzlich. Einige Aktivist:innen setzen sich an diesem kalten Januarmorgen auf den Zebrastreifen und halten entschlossen ihre Transparente in Richtung der hupenden Autofahrer:innen.
Es sind rund ein Dutzend, überwiegend junge Menschen in grellgelben Warnwesten. Ihnen gegenüber eine Kolonne Kraftfahrzeuge. Es dauert keine Minute, bis die ersten Autofahrer:innen aussteigen und die Aktivist:innen anschreien. Es kommt zu Handgreiflichkeiten, ein aufgebrachter Passant zerrt einen jungen Mann von der Fahrbahn. Als dieser sich wehrt, tritt er auf ihn ein. Wenige Minuten später trifft die Polizei ein, gegen 9.30 Uhr ist die Blockade aufgelöst, es gibt zwölf Festnahmen.
Uralte Tradition.
Die Blockaden der Klimaaktivist:innen der Letzten Generation, die sich an Straßen festkleben, provozieren, sie nerven, erhitzen die Gemüter, auf und abseits der Fahrbahn, in der Politik, den Medien. Doch so neuartig und originell die Aktionen der Aktivist:innen erscheinen mögen – sie sind es nicht. Sie knüpfen an eine uralte Tradition an. Historisch ist die Blockade von Verkehrswegen ein immer wiederkehrendes Phänomen, seit Jahrtausenden ist sie wichtiger Bestandteil politischer und militärischer Praxis. Auch wenn kein eindeutiger Ursprung, keine «Straßenblockade Null», auszumachen ist, gibt es unzählige Konflikte, in denen das Blockieren von Land- oder Wasserwegen zentrale Bedeutung hatte. Etwa im Peloponnesischen Krieg, als die spartanische Flotte im fünften Jahrhundert vor unserer Zeit sämtliche Wege nach Athen blockierte und die Stadt aushungern und zur Kapitulation zwingen konnte. Oder im oberösterreichischen Bauernkrieg von 1626, als Aufständische die Donau mit einer Eisenkette versperrten, um den Transport von Truppen aus dem Norden zu verhindern.
Straßenblockaden sind bis in die Gegenwart hinein ein probates Mittel im Verfolg politischer Ziele: von der Friedensbewegung der Nachkriegszeit, den britischen «Lorry drivers», die im «Winter of Discontent» britische Städte blockierten, den Gelbwesten in Frankreich, bis hin zu den 250 Millionen indischen Bauern und Bäuerinnen, die 2021 gegen die Deregulierung des Getreidemarkts streikten.
Die sozialen und politischen Schnittmengen dieser Proteste sind oft denkbar gering. Dabei stellt sich die Frage: Was haben diese Proteste gemeinsam? Was vereint die Aufständischen des oberösterreichischen Bauernkriegs mit britischen Lkw-Fahrer:innen und der Letzten Generation – und wieso bedienen sie sich derselben Mittel?
Eine «Universalgeschichte der Straßenblockade», so viel sei vorweg geschickt, ist schwer zu schreiben. Josef Löffler, Historiker der Universität Wien, sieht kaum eine Kontinuität zwischen den mittelalterlichen und vormodernen Straßenblockaden, etwa bei Bauernrevolten, und den Protesten der Letzten Generation. Während frühere Blockaden «einen unmittelbar ökonomischen oder taktisch-operativen, also militärischen, Hintergrund hatten, steht heute der symbolische Charakter im Zentrum», erklärt Löffler.
Politik auf der Straße.
Den entscheidenden Wendepunkt ortet er in der Entstehung einer politischen Öffentlichkeit im Laufe des 18. Jahrhunderts. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, unter anderem die technischen Möglichkeiten, Informationen über weite Distanzen schneller transportieren zu können. Dies war unter anderem eine der Voraussetzungen dafür, dass sich die Revolutionen von 1848 von Paris aus wie ein Lauffeuer über ganz Europa und auch nach Österreich ausbreiten konnten. Im 19. Jahrhundert, so Löffler, kam es zur Herausbildung der modernen Staatsbürgerschaft und zu einer immer stärkeren «Politisierung der Massen» auf Gemeindeebene und innerhalb politischer Parteien. Politik fand nicht mehr nur in Palästen, sondern auch auf Marktplätzen und Straßen statt. «Es liegt auf der Hand, dass sich auch das politische Instrumentarium verändert, wenn plötzlich mehr Menschen berechtigt sind, mitzubestimmen», erläutert Löffler.
Ihren instrumentellen Charakter behalten Straßenblockaden jedoch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Bei den Protesten gegen Atommüllendlager in Gorleben, gegen die Welthandelsorganisation WTO in Seattle oder den G8-Gipfel in Heiligendamm, bei der Blockade von Neonazi-Aufmärschen und dergleichen ging es stets darum, «den Druck auf ein konkretes Gegenüber bzw. deren Kosten zu erhöhen», erklärt Simon Teune, Protestforscher am Institut für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin.
Doch mit der Herausbildung einer politischen Öffentlichkeit kommt ein zweites Element hinzu: der symbolische Charakter von Protest. Mit Blockaden wollen die Beteiligten nicht nur die «Kosten der Nutzung» erhöhen, sondern ihren politischen Forderungen eine Bühne bieten. Zumeist handelt es sich um Mischformen, bei denen symbolische Botschaft und strategisches Ziel Hand in Hand gehen.
Die Blockaden des Atomkraftwerks Zwentendorf in den 1970er-Jahren in Niederösterreich hatten symbolischen Charakter und dienten gleichzeitig dazu, Zufahrten zum Kraftwerk zu versperren und eine Inbetriebnahme zu verhindern.
Friedliche Versammlungen.
Wolfgang Rehm, Sprecher der Umweltorganisation Virus, kann sich an viele solcher Aktionen erinnern. Seine erste Straßenblockade datiert auf das Jahr 1984 zurück, damals hinderten er und seine Mitstreiter:innen Baufahrzeuge daran, die Bauarbeiten zum Donaukraftwerk im niederösterreichischen Hainburg zu beginnen. Mit Blick auf die heutige Debatte, in der vielfach von «Klima-Terrorismus» und vermeintlich illegalen Blockaden die Rede ist, ist Rehm eines besonders wichtig zu betonen: «Eine manifestative Straßenblockade gilt als Versammlung und ist daher durch das Recht auf Versammlungsfreiheit geschützt, unabhängig davon, ob sie angezeigt wurde oder nicht». In der Folge von Hainburg führte das Thema Verkehr in Österreich immer häufiger zu politischen Auseinandersetzungen. 1991 ketteten sich rund 200 Greenpeace-Aktivist:innen an Brenner- und St.-Gotthardpass, um «gegen den ständig wachsenden Transitterror» zu protestieren.
Auch in den Städten, allen voran in Wien, wurde das Thema Verkehr, öffentlicher Raum und der Anspruch darauf zunehmend politischer. 1990 kam es vermehrt zu Parkplatzbesetzungen in der Wiener Innenstadt und zu einer groß angelegten Blockade der Ringstraße – inklusive massivem Polizeieinsatz. «Die Aktionen nach Räumung eines Grüngebietes in Hetzendorf waren 1990 eine Art Katz-und-Maus-Spiel», erinnert sich Rehm. Es ging darum, in einer Art und Weise zu agieren, die das massive Kräfteungleichgewicht zwischen Polizei und Aktivist:innen nivelliert. Um eine Straße zu blockieren, reichen wenige Menschen.
Ein paar mehr Menschen brauchte es in der Wiener Lobau, bei den Protesten gegen den Bau einer 19 Kilometer langen Schnellstraße vom Wiener Knoten Schwechat zum niederösterreichischen Knoten Süßenbrunn – mitsamt 8,2 Kilometer Untertunnelung des Nationalparks Donau-Auen und der Lobau. 2006 besetzten Aktivist:innen von Global 2000, deren spätere Geschäftsführerin Leonore Gewessler, heute Umweltministerin, ist, für acht Wochen lang die Lobau, um die Asfinag an Probebohrungen zu hindern. Mittels Protestcamps und diverser Blockaden versuchten das Bündnis LobauBleibt und diverse weitere Umwelt- und Klimaaktivist:innen, den Bau der Lobau-Autobahn bzw. des Tunnels mehrfach zu verhindern. Das Milliardenprojekt liegt mittlerweile auf Eis.
Internationale Beispiele.
Bei Straßenblockaden handelt es sich keineswegs um ein Phänomen, das auf Europa beschränkt ist – und auch nicht um eine Protestform, derer sich nur (im weitesten Sinne) linke, emanzipatorische Gruppierungen bedienen. Nachdem Jair Bolsonaro bei den brasilianischen Präsidentschaftswahlen gegen seinen Kontrahenten Lula da Silva unterlag, blockierten Anhänger:innen des scheidenden rechtsextremen Präsidenten im November vergangenen Jahres zweihundert Straßen im ganzen Land, großteils mit Lkws, darunter wichtige Verkehrsachsen wie eine Stadtautobahn in der Wirtschaftsmetropole São Paulo.
Bei Reynas Erinnerung an Straßenblockaden geht es weder um Transitverkehr noch um autofreie Innenstädte oder Nationalparks, sondern um die Unabhängigkeit seines Volkes. Reyna ist heute 35 Jahre alt, lebt in Waspam, einer indigenen Gemeinde an der Atlantikküste Nicaraguas, und ist Angehöriger der Miskito. Das ist auch der Grund, warum er hier anonym bleiben möchte. Seit den späten 1970ern werden die Miskito vom sandinistischen Regime (benannt nach der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront) in Nicaragua gewaltsam unterdrückt. Reyna hat es sich zur Aufgabe gemacht, an diese Geschehnisse zu erinnern und kämpft als politischer Aktivist bis heute für die Selbstbestimmtheit der Indigenen Nicaraguas.
Als Reyna geboren wurde, herrschte ein offener Krieg zwischen der sandinistischen Regierung und den Miskito. «In diesem Kampf bombardierten die Sandinistas unsere Dörfer, ermordeten Zivilist:innen und vertrieben die Bevölkerung», erklärt er. Straßenblockaden spielten auch für die Miskito eine entscheidende Rolle – weniger symbolisch als vielmehr in einem direkten, militärischen Sinne. Es erlaubte den zahlenmäßig und technisch unterlegenen Miskito den Vormarsch der Sandinista-Truppen aufzuhalten oder zumindest abzuschwächen. «Diese Aktionen verhinderten viele Tote aufseiten der indigenen Bevölkerung», bekräftigt der Miskito-Aktivist. Von einem Erfolg will Reyna dennoch nicht sprechen. An der Situation seines Volkes hat sich bis heute wenig verbessert.
Wenig Aufwand, viele Klicks. Die historischen Umstände und politischen Anliegen, bei denen Straßenblockaden zur Anwendung kamen, sind schier unendlich. Rein «quantitativ» sind die Protestaktionen der Letzten Generation so erfolgreich wie nie eine vergleichbare Aktion zuvor. Millionen Klicks auf YouTube, unzählige Artikel, Interviews und Reportagen in diversen Medien. Medial ist der Protest der Klimaaktivist:innen im Mainstream angekommen. Dabei spielt das Internet eine zentrale Rolle. Die im 18. Jahrhundert entstehende politische Öffentlichkeit hat sich in eine globale, digitalisierte Öffentlichkeit verwandelt, Informationen und Bilder gehen in Sekunden um die Welt.
Lorenz, 24, saß schon mehrfach am Zebrastreifen, während wütende Autofahrer:innen ihn verfluchten. «Wir wollen, dass unser Protest in der Mitte der Gesellschaft, in der Öffentlichkeit stattfindet, sodass er auch in den Medien wahrgenommen wird», bekräftigt der Aktivist der Letzten Generation. Mit wenig personellem Aufwand erreicht die Gruppe eine enorme Reichweite und schafft es mittlerweile seit Monaten Zeitungscover, Talkshows und Küchentischgespräche mit ihren Inhalten zu belagern. Wissenschafter:innen der Universität für Bodenkultur und der Universität Wien solidarisieren sich mit der Letzten Generation und stellen sich hinter deren Forderungen. Auch daran zeige sich der Erfolg ihrer Aktionen, erklärt Lorenz. Dass die Straßenblockade als Mittel politischen Protests so gut funktioniert, liegt laut ihm daran, dass sie deutlich macht, wozu die Aktivist:innen bereit sind: «Weil es eben nicht lustig ist, sich da in der Kälte auf die Straße zu setzen. Diese Opferbereitschaft schafft dann wiederum ein gewisses Verständnis in der Bevölkerung.»
Hierin ortet Protestforscher Simon Teune das Neuartige am Protest der Letzten Generation. Deren Blockaden zielen weniger auf die logistische Bedeutung von Straßen ab und haben «kein definiertes Gegenüber, sondern die Gesellschaft als Ganzes zum Ziel». Der Protestforscher spricht vom Versuch der «Visualisierung des Konflikts»: Es geht darum, emotional aufgeladene Bilder zu erzeugen, die den Konflikt zwischen Status quo und Dringlichkeit der Krise sowie den Handlungsunwillen der Herrschenden verdeutlichen. Unfreiwillig komisch versinnbildlichte diesen Handlungsunwillen Mitte Februar Integrationsstaatssekretärin Claudia Plakolm. Während Aktivist:innen der Letzten Generation den Wiener Morgenverkehr lahmlegen, verteilt die ÖVP-Politikerin Frühstück an wartende Autofahrer:innen. Später sollte sich herausstellen, dass sich Plakolm und ihr Team in Ort und Uhrzeit irrten und die «falschen» Autofahrer:innen verköstigten.
Nerven für das Klima.
Mediale Omnipräsenz, und das monatelang – das kann auch die Klimaprotestbewegung Fridays For Future für sich beanspruchen. Zumindest konnte sie das. Nicht zuletzt eine Pandemie bugsierte die Schüler:innen-Proteste zunächst vom Cover in die Randspalte und letztlich komplett aus der Berichterstattung. Wird die Letzte Generation ein ähnliches Schicksal erleiden? Protestforscher Simon Teune glaubt, das Potenzial der Letzten Generation und deren Aktionen habe sich noch lange nicht erschöpft. «Die Klimabewegung hat sich in der Vergangenheit vor allem dadurch ausgezeichnet, immer wieder neue, innovative Protestformen zu finden.» Auch Lorenz und seine Kolleg:innen denken derzeit nicht ans Aufhören. «Wieso sollen wir eine Protestform aufgeben, die sehr gut funktioniert?» Es ist die Dauerhaftigkeit, «dass es immer dasselbe ist, immer nervig ist», die die Wirksamkeit der Straßenblockaden ausmachen. Hinzu kommt: Auf Dauer verursachen auch die überwiegend «symbolischen» Blockaden der Letzten Generation wirtschaftlichen Schaden, der von der Politik nicht ignoriert werden kann.
Seit den Seeblockaden im antiken Griechenland und den Aufständen der oberösterreichischen Bauern ist viel Wasser die Donau hinuntergeflossen und viel CO2 in die Luft geblasen worden. Der Charakter von Straßenblockaden hat sich verändert. Statt militärischen Zwecken dienen sie heute meist der Jagd nach Klicks und Likes. Trotz dieses Wandels – vielleicht gerade deshalb – sind Straßenblockaden nach wie vor fixer Bestandteil politischen Protests. Auch der Wiener Gürtel wird wohl nicht zum letzten Mal stillstehen.
Foto: Christopher Glanzl