Warum ein Richter bei einem Obdachlosen nicht Milde walten liesstun & lassen

Herabgesetzte Einordnungsfähigkeit

Die Freiheitsstrafe als Fangnetz für Arme – das war das Thema der vergangenen AUGUSTIN-Ausgabe. Diesmal wird’s konkret: Ein Obdachloser ignorierte eine auf Rot stehende Ampel, ein Richter statuierte ein Exempel.Eine Woche, bevor Karl Z. seine dreimonatige unbedingte Haftstrafe antreten musste, besuchte er die AUGUSTIN-Redaktion, wo er nicht den Eindruck eines einschlägigen Gewalttäters hinterließ. Im Gegenteil. Karls Erzählung hinterließ bei der – freilich durch einschlägige Erfahrungen in dieser Hinsicht sensibilisierten -Straßenzeitungsredaktion den Eindruck, dass hier wieder einmal der Staat der Gewalttäter ist.

Am 14. September des Vorjahres war Karl Z. bei rot über die Kreuzung geradelt. Es gab keinen Verkehr, also war niemand gefährdet. Karl war zu diesem Zeitpunkt obdachlos, arbeitslos, mittellos und nicht in bester psychischer Verfassung. Der Delinquent erzählte:

Ich bin mit dem Rad in der Praterstraße gefahren – mit Anhänger. Es war ein altes Waffenrad. Ich wollte zu meinem Bruder fahren. Mir war schon den ganzen Tag schlecht – am Vortag hatte ich zu viele Süßigkeiten gegessen. Ich fuhr bei rot über eine Kreuzung – es kamen ohnehin keine Autos. Ich dürfte eine auffällige Erscheinung gewesen sein – mit dem alten Waffenrad, mit der Trommel, die am Rad angebracht war, mit dem Radanhänger. Hinter mir war ein Polizist unterwegs, ebenfalls mit dem Rad. Er sagte mir, ich soll stehe bleiben, die Ampel sei rot. Ich bin aber weiter gefahren. Da versuchte er, mich aufzuhalten, indem er in meinen Beiwagen hineinfuhr. Der kippte um, sodass ich stehenbleiben musste. Hast du das jetzt absichtlich gemacht?, fragte ich ihn. Er grinste bloß. Ich bin dann weitergefahren mit dem Bewusstsein, wir seien nun quitt, es sei ausgeglichen zwischen uns. Der Polizist aber radelte mir nach, überholte mich, forderte über sein Funkgerät Verstärkung an. Ich versuchte erneut, davonzufahren. Ich flüchte schon seit längerem vor Polizisten. Es gab da zwei Vorfälle mit Polizisten auf der Straße. Der Auslöser ist immer meine Trommel, mit der ich auf der Straße spiele, was die Polizisten aber nicht wollen. Als die achtköpfige Verstärkung kam, blieb mir nichts anderes übrig, als endgültig stehen zu bleiben. Ich habe dem Polizisten gesagt, er sei sicherlich ein guter Jäger, aber er jage nach der falschen Beute. Sie legten mir Handschellen an und brachten mich auf die Wachstube, weil ich keinen Ausweis hatte. Dann kam die Anzeige. Der Polizist gab an, ich hätte ihn gestoßen. Ich sei mit meinem Rad in seines gefahren und er sei dadurch zu Sturz gekommen. Das Resultat: Drei Monate unbedingt wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt.

Der Staat – wie ein Elefant im Pozellanladen

Karl Z. war in Begleitung von Erika N. in der AUGUSTIN-Redaktion. Erika ist Künstlerin und betreibt in der Theresiengasse das A.R.T.Haus. Sie hat dem Ex-Obdachlosen eine Unterkunft besorgt und ihn in ihrer Firma als Hausarbeiter angestellt. Sie ging von Pontius zu Pilatus, um für Karl einen Strafaufschub oder eine Umwandlung der unbedingten in eine bedingte Strafe zu erreichen. Vergebens. Erika N. kennt „Karl als Menschen, der ruhig bleibt, auch wenn ihn wer provoziert. Ich habe ihn in Situationen ruhig und friedlich bleiben sehen, wo jeder andere Mann zurückgeschlagen hätte.“ Erika N. sagt, es ist ein Wahnsinn, einen Menschen durch eine derartige unsinnige Haftstrafe für ein derartig lächerliches Delikt um die Chancen der Konsolidierung zu bringen. Die Wohnung und die Arbeit bringen erstmals einen Hoffnungsschimmer in Karls Leben – und da trampelt der Staat herein wie ein Elefant in den Porzellanladen.

Erika N. erläuterte:

Der Polizist war nur mit Hemd, ohne Dienstkappe unterwegs. Ich weiß, wenn ein Polizist ohne Kappe unterwegs ist, ist er eigentlich nicht im Dienst. Wenn es also einen „Widerstand“ gab, kann es in diesem Moment kein Widerstand gegen die Staatsgewalt sein, genauso wie Karls angeblicher Widerstand gegen die Supermarktkassiererin aus dem Jahr 1993, nach dem ertappten Lebensmitteldiebstahl, kein Widerstand gegen die Staatsgewalt war. Nach diesem Paragraphen ist er aber damals, wie heute, verurteilt worden, und daher die „einschlägige“ Straffälligkeit, die der Richter konstruiert hat.

Einschlägigkeit. Das ist der Killerbegriff. Im Fall Larl. Z. dient er dazu, die Härte des Urteils zu legitimieren. Der Richter spricht in seinem Urteil vom „wiederholt bescholtenen Vorleben des Angeklagten, der in der Vergangenheit die Staatsgewalt beharrlich missachtete“, der „neuerlich einschlägig straffällig“ geworden sei und der „bereits einmal wegen eines auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden Deliktes“ verurteilt worden sei. Aus Gründen der Generalprävention, also der Abschreckung, dürfe man „dieses die staatliche Autorität negierende Verhalten“ Karls nicht milde (z.B. durch eine bedingte Strafe) sanktionieren. Eine harte Bestrafung sei also angemessen, „um negative Beispielsfolgen zu verhindern“, so der Richter. Seine Sprache erinnert uns irgendwie an die Sprache von tausendjährigen Reichen.

Karl wurde als Täter, nicht als Patient beurteilt

Erika N. klärte auf:

In seinem Urteil griff er auf einen elf Jahre zurückliegenden Vorfall beim Bundesheer zurück. Es kam zu einer Befehlsverweigerung. Das geschah aber nicht, weil Karl Widerstand gegen die Autorität leistete, sondern weil er damals psychisch krank war. Es gibt ein psychiatrisches Gutachten: „Überlastungsreaktion bei soziopathischer Struktur; Persönlichkeitsstörungen mit herabgesetzter Einordnungsfähigkeit“. Aber der psychische Zustand, der damals auch zur vorzeitigen Entlassung Karls aus dem Wehrdienst führte, wurde vom Gericht nicht berücksichtigt. Karl wurde als Täter, nicht als Patient beurteilt. Als vorsätzlicher Täter und nicht als Person, die in Stresssituationen außergewöhnlich reagiert. Nämlich mit Flucht oder Abkapselung vor der sozialen Umwelt – eine Verhaltensweise, die in Karls Kindheit begründet ist. Er wuchs ohne Vater auf; der Stiefvater redete nie mit ihm. Die Mutter sperrte ihn weg, Karl erlernte nie die Regeln des sozialen Umgangs.

Das Gericht griff außerdem auf eine Sache aus dem Jahr 1993 zurück: Lebensmitteldiebstahl im Wert von 600 Schilling. Karl war damals obdachlos und arbeitslos, er hatte Hunger. Er hat nicht Alkohol oder sonst was gestohlen, sondern Packerlsuppen und Brot. Überlebensdinge. Dazu kam der Diebstahl einer Sonnenbrille im Wert von 300 Schilling und eben das frühere Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, das aber eigentlich kein Delikt war, sondern aus seinem damaligen psychischen Zustand rührte. Karl wurde 1993 zu zwölf Monaten verurteilt. Acht Monate saß er ab, dann kam die Weihnachtsamnestie. Mir kommt vor, dass der Staat sich denkt, von den Kosten her ist es egal, ob Karl die Notstandshilfe bekommt oder eingesperrt wird, also sperren wir ihn aus erzieherischen Gründen lieber ein.

Das alles bestätigt den Wiener Kriminalsoziologen Arno Pilgram, der neulich in einem Radio Augustin-Studiogespräch zum Thema Armut und Gefängnis die These aufstellte: Die Freiheitsstrafe ist ein Fangnetz für Arme; die nicht in den Arbeitsmarkt Integrierten, die vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen, die an den Rand Gedrängten haben die besten Chancen, im Häfen zu landen; während auf der anderen Seite die ganze Palette des alternativen Umgangs mit strafrechtlichen Konflikten (z.B. außergerichtliche Ausgleiche) vor allem den gebildeteren und sozial integrierteren Menschen offensteht.

Three strikes and you are out

Auch Karl Z. ist ein Ausgeschlossener, weil er nicht als „Leistungsträger“ für den Turbokapitalismus ausbeutbar ist. Aber Karl hat Fähigkeiten, über die Erika N. nur staunen kann:

Jede einzelne Trommel, die Karl baut , schnitzt, stemmt, ist ein Kunstwerk. Ich bin selber bildende Künstlerin, ich kann das einschätzen. Es sind Unikate, die liebevoll mit der Hand bearbeitet werden. Aus einem Baumstamm entsteht ein Instrument. Aus e i n e m Stück – ich kenne sonst niemand, der auf diese Art Congas und Tschemben macht. Karl hat das autoditaktisch gelernt. Und Karl ist ein genialer Rhythmus-Musiker. Das Trommeln ist für ihn auch eine Art Selbsttherapie.

Du hast dich dreimal daneben benommen, also bist du unverbesserlich. So scheinen Richter zu denken. Dreimal daneben: In Kalifornien ist 1994 tatsächlich das Three-Strikes-Gesetz eingeführt worden. Der Namen dieser Regelung ist dem Baseball entlehnt. Three strikes and you are out – dreimal daneben, und du bist raus. Wer zum dritten Mal wegen eines Verbrechens verurteilt wird, dem muss der Richter die Höchststrafe geben. Der Obdachlose Stanley Durden ließ in einem Lebensmittelgeschäft einen Regenschiorm und zwei Flaschen Schnaps mitgehen. Der Wert der gestohlenen Sachen betrug 43 Dollar. Der Richter in Los Angeles County wandte die Three-Strikes-Regel konsequent an und verurteilte den Obdachlosen zu 25 Jahren.

Soweit sind wir ja noch nicht im Schnitzelland. Aber wie 25 Jahre genau 25 Jahre zuviel sind, sind drei Monate genau drei Monate zuviel. Woher nimmt sich der Staat das Recht, einem Menschen Leid zuzufügen? Und warum merkt fast niemand, dass immer derselben Sorte von Menschen dieses staatliche Leid zugefügt wird? Wenn im Deutschen, wie im Englischen, penal und paine, die Strafe und der Schmerz, zusammengehörig klängen, würden die Menschen es dann merken? Ein Manager, der mit Anzug und Krawatte bei rot über die Kreuzung radelt, landet nie im Gefängnis. Wer das Gegenteil beweist, kriegt ein Gratis-Abo vom AUGUSTIN.

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