Über die Schwierigkeiten, die Gebärdensprache zu vereinheitlichen
Am weitesten fortgeschritten in der Vereinheitlichung der Gebärdensprache sind die USA. Dort wurde schon im ersten Quartal des 19. Jahrhunderts die American Sign Language entwickelt, und 1860 entstand die erste Universität für Gehörlose. Es war auch ein amerikanischer Linguist, William C. Stokoe, der in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die These aufstellte, die Gebärdensprache sei eine vollwertige Sprache. Hinter Stokoe zurückzufallen wäre eine Annäherung an das «gesunde Volksempfinden», das heute in Österreich in der Begegnung mit der Gehörlosenkultur noch vorherrschend ist und das «die älteste Sprache der Welt» Herumfuchteln nennt. Die ersten Sprachen können keine Lautsprachen, sondern müssen Gebärdensprachen gewesen sein, lehrte Stokoe, denn Töne an sich stellen nicht dar, wie etwas aussieht. Gesten tun dies.
In Deutschland existieren, ähnlich wie in Österreich, viele unterschiedliche Gebärdensprach-Dialekte. Will etwa ein bayrischer Gehörloser den Sonntag beschreiben, legt er seine Hände vor der Brust zusammen das Zeichen für den Gottesdienst. In Norddeutschland hatte Gott weniger Einfluss auf die Gebärde: Die Geste für Sonntag stellt das Glattstreichen des feinen Sonntagsanzugs über Brust und Bauch dar. Immerhin ist im Frühling dieses Jahres das Große Wörterbuch der deutschen Gebärdensprache in Form einer DVD-ROM erschienen. Es umfasst 18.000 Wörter und Gebärdenvideos.
Auf das Wörterbuch der österreichischen Gebärdensprache warten die Betroffenen noch. Eine seit 2003 daran arbeitende Kommission hielt bisher 12.000 Gebärden fest, die als Österreich-Standard vorgeschlagen werden. Das ist aber erst ein Viertel bis ein Drittel des Wortschatzes eines gebildeten Menschen. Die Abbildungen, die der gehörlose equalizent-Gebärdensprachtrainer Tomas Fellinger extra für den Augustin zeichnete, zeigen am Beispiel von fünf Signs, wie verschieden in Wien, Tirol und der Steiermark gebärdet wird. Die Kommission hat es also in vielen Fällen nicht leicht, sich für ein allgemeingültiges Zeichen zu entscheiden. Der historische Grund dieser Differenzierung sei in einer Spezialität der Gehörlosenkultur zu finden, erklärt Monika Haider. Gehörlose sind mehr als Sprechende auf ihre Interessensvertretungen und Vereine angewiesen; diese weisen eine bundesländer-orientierte Struktur auf. Durch den regelmäßigen Kontakt mit den Vereinszentren, die sich in der Regel in den Landeshauptstädten befinden, kam es zu jeweils landesüblichen Normen. Da in Schulen Gebärdensprache bis 1986 verboten war, konnten gehörlose Schülerinnen die jeweiligen Landesgebärden nicht kennen und haben zusätzliche eigene Dialekte entwickelt. So konnte es passieren, dass selbst innerhalb eines Bundeslandes verschiedene regionale Dialekte gebärdet werden.
Anderswo spielt die Mimik eine größere Rolle
Ein aus dem Standardisierungsprozess resultierendes österreichisches Gebärdensprachenlexikon wird sich vom bereits erschienenen deutschen so unterscheiden wie die österreichische von der deutschen Schriftsprache. Von einer globalen Vereinheitlichung der Gebärdensprache gar nicht zu reden. Monika Haider kann einem Esperanto der Gebärdensprache ohnehin wenig abgewinnen: Die kulturell entwickelten regionalen Eigenheiten der Menschen müssen sich in einer lebendigen Gebärdensprache widerspiegeln, meint sie: «In Regionen, in denen die Mimik kulturell eine große Rolle spielt, wird der Gesichtsausdruck so wichtig sein wie das Zeichen mit der Hand.»
Und Menschen, die zum Zeichnen und Malen talentiert sind, werden sich leichter mit der Gebärdensprache tun als in dieser Hinsicht Unbegabte: «Für mich ist die Gebärdensprache wie ein Bildermalen in der Luft», sagt die equalizent-Leiterin. Sie nimmt die Antwort auf eine Frage vorweg, die ich noch gar nicht stellte: Wie stellen Gehörlose zusammengesetzte Hauptwörter dar: Wort für Wort oder den Gesamtbegriff? Als Beispiel schlage ich den Wolkenbruch vor. «Übertragungen in die Gebärdensprache sind nicht Eins-zu-eins-Übersetzungen», erklärt Monika Haider. Und sie malt den Wolkenbruch in die Luft. Formt Wolken mit ihren beiden Händen in Gesichtshöhe, mimt sogar den Blitzschlag, indem sie die beiden Fäuste kurz zusammenprallen lässt, und lässt die Regenmassen auf die Erde stürzen, wie es jede und jeder zeigen würde, unabhängig vom Zustand des Gehörorgans.
Eine offizielle Gebärden-Hochsprache, die in den Schulunterricht einzieht, bleibt der Traum der Gehörlosen-Lobby. In Österreichs Schulen ist die Kommunikationsform der Gehörlosen, die Gebärdensprache, weitgehend tabu. Gehörlose Kinder werden weil sie als behindert angesehen werden zum Lippenlesen und zum Sprechen-ohne-zu-hören gezwungen, was die Folge hat, dass auch die intelligentesten gehörlosen Kinder mit dem Wortschatz eines Volksschülers gering gebildet das Schulsystem verlassen. Die Radikaleren unter den Gehörlosen scheuen sich nicht mehr, darin ein «Staatsverbrechen» zu erblicken. Dass Bilingualität, sprich die Kombination von Gebärdensprache und Deutsch, nur von Vorteil ist, auch um die Deutschkompetenz zu erhöhen, ist eine der pädagogischen Gewissheiten, die nicht Eingang in die Köpfe der Bildungsverantwortlichen finden.
In jüngster Zeit hat die Gebärdensprache auch in Österreich viele kleine Triumphe feiern können. Seit 2005 ist die österreichische Gebärdensprache als eigenständige Sprache in der Bundesverfassung verankert. Zum ersten Mal sitzt eine gehörlose Nationalrätin im Parlament. Ein Projekt mit dem Ziel, Weltliteratur in Gebärdensprache zu übersetzen, ist angelaufen. Es beginnt, keine schlechte Wahl, mit einem Kafka-Text. Seit Jänner dieses Jahres steht mit www.signtime.tv ein Internet-Nachrichtendienst in Gebärdensprache zur Verfügung, und die gehörlose Jugend dieses Landes flaniert wie kaum ein anderes Milieu in der Facebook-Welt. Und dennoch liegt Österreich im internationalen Maßstab weit zurück, was die Emanzipation der Sprache der Gehörlosen betrifft. Wie weit, wird ein Beitrag in einer der folgenden Ausgaben zeigen; auch das historische Erbe der «Oralisten»-Gegenreformation in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, das nach wie vor den Einzug der Gebärdensprache in die Schulen blockiert, wird darin behandelt werden.