Wenn ich Sie ansehe …Dichter Innenteil

Gott in Weiß

Therapeutische Hilfe erbeten, aber als Demonstrationsobjekt im Hörsaal der Universitätsklinik gelandet. Über den Umgang mit einer «Nervenkranken».Weil ich meine Affekte nicht mehr beherrschen zu können glaubte und der Zustand meiner Nerven nach und nach eine Entladung, ein Schauspiel befürchten ließ, das meine Kinder ein Leben lang nicht vergessen hätten, bat ich meinen Nervenarzt, mir die Aufnahme in der Universitätsklinik zu vermitteln. Mein Gesprächstherapeut auf Station 5a war Dr. Sch., der mir nach etwa drei Wochen freundlich zu verstehen gab, dass es zu den Bedingungen des Klinikaufenthalts gehöre, in den Hörsaal geführt zu werden, um dort als Demonstrationsobjekt zu dienen.

Musste er mir das antun, obwohl ich erschrocken dagegen protestierte? Genügte es nicht, dass ich mich selber als Abnormität, als Monstrosität, als familiäre Schande empfand? War ich denn eine medizinische Rarität, ein ausgefallenes Spirituspräparat, dass man mich den Blicken dieser ahnungslosen, unverbrauchten Studenten aussetzen wollte? Sollte ich vor ihnen mein zerfetztes, chaotisches Innenleben hervorstülpen, sie in meinen Gedärmen wühlen und die pathologischen Wucherungen meiner Seele öffentlich sezieren lassen, damit sie mich dann kopfschüttelnd auf die Station zurückschicken konnten?

Ja, habe ich gesagt, ja, wie immer, weil ich es überhaupt rasch aufgebe, mich zu weigern, nicht nur hier im Spital als ein ausgeliefertes Häufchen psychiatrischen Elends. Es war ohnedies alles hoffnungslos, auf ein Stündchen vermehrter Angst und Demütigung kam es schon nicht mehr an. Obwohl mein Herz blindwütig an den Gitterstäben des Brustkorbes rüttelte, ließ ich mich von der Schwester in den Hörsaal bringen. Ich hatte vorne beim Tisch des Prüfers Platz zu nehmen, um mich von einem Studenten in ein Prüfungsgespräch verwickeln zu lassen, bei dem er mich nach meinen Symptomen fragen und eine Diagnose stellen sollte. Die Möglichkeit dazu fand sich erst gar nicht, weil ich gleich zu Beginn ahnungslos mit ihr herausplatzte: «Teils reaktive, teils neurotische Depression.» Und mit einem Ruck: «Angstzustände.» Das löste bei den zuhörenden Kollegen des Prüflings Lachen, bei mir gesteigerte Befangenheit aus

«Angst ist es, was Sie am meisten quält?», fragt der aufgeregte junge Mediziner, «wovor haben Sie Angst?»

Immer dieses unglückliche Bezugnehmen auf konkrete Ursachen! Damit reißt er schon wieder den Graben auf, der mich von den Gesunden trennt. Ich würde mich seiner Vorstellungswelt anpassen müssen!

Hinein in mein Schweigen bohrt er auch schon weiter: «Vor spitzen Gegenständen? Geschlossenen Räumen?»

Ich erwidere ihm, dass mir Scheren, Spinnen, Mäuse, Hunde, Blitze, Tunnels und Friedhöfe lieb seien, dass ich mich in leeren und vollen, geschlossenen und offenen, weiten und engen Räumen wohlfühlen würde und dass es mich auch nicht erschrecke, in einem übervollen Straßenbahnwagon eingeklemmt zu sein.

«Wovor haben Sie dann Angst?»

«Vor meinen Schülern», sage ich zögernd, «dass sie mir entgleiten.» Damit habe ich ihm endlich etwas Brauchbares in die Hände gespielt, und er nickt dankbar. Unsicherheit scheint ihm nicht fremd zu sein, unsere Augen begegnen einander und wir wagen beide ein kleines Lächeln gegenseitigen Verständnisses.

«Und?»

«Vor meiner Mutter vor Ämtern vor meinem Mann »

«Warum vor ihm?»

«Darüber möchte ich nicht reden. Nicht hier.»

«Vor wem noch?»

Es ist nichts mehr herauszuholen aus mir, weil ich sonst hinzufügen müsste, was Sie, lieber Student, ohnehin nicht verstünden: VOR ALLEN MENSCHEN. Vor Ihnen, aber nur ein bisschen, vor der Stationsschwester, vor meiner paranoiden Bettnachbarin, vor der Visite, aber besonders vor dem arroganten Professor da zu meiner Rechten, der sich weidet an Ihrer Nervosität, der jede falsche Antwort mit einem spöttischen «Aber, aber, Herr Kollege!» und «Tatsächlich, Herr Kollege?» quittiert und jede ausbleibende mit einer höhnisch zur Schau gestellten Geduld zu einer endlosen Peinlichkeit zerdehnt

Wie der Professor Sie da irritierend anlächelt, als Sie nun gefragt werden nach den Symptomen eines seelisch bedingten Angstanfalles und seiner Verwechselbarkeit mit schweren körperlichen Geschehen, bei denen eine solche Attacke sofort medikamentös behandelt werden muss und Angst nur eine Begleiterscheinung ist. Sie aber, gepeinigter Kandidat, verheddern sich, hypnotisiert wie ein Kaninchen, prompt hoffnungslos!

«Woher hätte ich den Mut nehmen sollen?»

Ich mag ihn nicht, diesen Seelendoktor, diese Seele von einem Doktor, der sich dann noch, einen abschätzigen Blick auf mich werfend, zu der Bemerkung versteigt: «Wenn ich die Patientin ansehe, weiß ich ihre ganze Lebensgeschichte!» Noch besitze ich meine Wendigkeit im Sprachlichen und hätte eine fabelhafte Antwort bereit, die ihm gewiss den Mund hätte offen stehen lassen. Einen Augenblick lang stelle ich mir die Wirkung meiner ausgedachten Worte vor, woher aber hätte ich den Mut nehmen sollen, mich gegen ein so gelehrtes hohes Tier zu stellen, wenn ich es nicht einmal zuwege bringe, die Putzfrau davon abzuhalten, Blumen, die mir meine Besucher mitgebracht haben, wegzuwerfen, obwohl man sie noch aussortieren könnte?

Putzfrau Bedienerin Eigentlich ist Putzen die einzige Tätigkeit, die mir als angemessen erschienen ist, von der ich glaubte, dass nichts Besseres mir zustünde. Ja, ich als Putzfrau mit Besen, Kübel, einem nassen Lappen, schmutziger Schürze, ungepflegten Haaren! Putzfrau meiner Kindheit, mehr Stalldirn, keine der heutigen Raumpflegerinnen mit ihren hübschen Arbeitskitteln und ihrem gewerkschaftsgestützten Selbstbewusstsein

Und überhaupt: Ich habe mich duzen lassen, wo es zur Beleidigung wurde, in einem Geschäft hat man sich ruhig vor mich hindrängen können, ich habe mir Dinge an den Kopf werfen lassen, an denen ich keine Schuld trug. Ich bin also, wenn man so will, ganz leicht zu demütigen

Wie aber konnte dieser Professor, der, wenn überhaupt, meine Krankengeschichte nur überflogen hatte, diese Behauptung aufstellen? Sieht man es einem Menschen an, dass er nichts von sich hält? Was ist es, das man mir ansieht? Wie ist mein Leben seiner Meinung nach verlaufen? Selbst das hätte ich mich nicht zu fragen gewagt

Vermutlich hätte er sich in psychiatrische Termini geflüchtet, die Theorie bemüht, in der er geschult worden ist, etwa in mir eine «defizitäre Persönlichkeit», einen «Angstneurotiker mit autoaggressiven Tendenzen» gesehen und meine psychiatrische Karriere als das Ergebnis einer «sozialen Phobie». Gut möglich auch, dass er mir eine andere seltene oder interessante Störung verpasst hätte eine von den vielen, die ich mir angelesen habe aus der Fülle populärwissenschaftlicher Seelenliteratur, immer auf der Suche nach dem Schlüssel zu mir selber.

In welches tiefenpsychologische Spezialfach er mich auch geschoben hätte, in der Umgangssprache hätte es immer nur das bedeutet: Schauen Sie sich doch diese Frau an, wie sie dasitzt, die Luft anhält, sich duckt, den Kopf in die Schultern hineinnimmt, ganz, als ob sie einen Schlag erwarten würde Sehen Sie den Ausdruck ihrer Augen, wie sie sich scheu wegdreht, hören Sie, wie leise sie spricht, wie ihre Stimme schwankt, wie sie bei jeder Frage zurückzuckt Mit dieser Frau kann man machen, was man will! Und er hat Recht. ER HATTE RECHT.

«Ans Licht gegraben»

Es würde diesen Rahmen sprengen, wenn ich mit dem Abstand von Jahren den langen, stets vom Scheitern bedrohten Prozess zugänglich machen wollte, mit dem ich mich ans Licht gegraben, im ungewohnten Licht getaumelt, gestrauchelt bin, mich mit Qualen aufgerichtet und letztlich Rückgrat erlangt habe

Wie sagte doch jener fabelhafte Hochschullehrer: «Wenn ich die Patientin ansehe, weiß ich ihre ganze Lebensgeschichte!» Heute würde ich, selbst wenn mir der Puls etwas schneller schlägt und vielleicht Schweißtropfen auf der Stirn hervorquellen, ihm ins Gesicht sehen was kann er mir schon tun? und empört antworten: «Wenn ich Sie ansehe, Herr Professor, weiß ich auch Ihre ganze Lebensgeschichte, zumindest die Geschichte ihrer Karriere! Sie ist geprägt von Ehrgeiz, Rücksichtslosigkeit, Zynismus und Menschenverachtung!»

Die Augen seiner gequälten Prüflinge möchte ich sehen!

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