Widerstand als PoesieArtistin

Die Secession zeigt Arbeiten von Bouchra Khalili

Bouchra Khalili setzt mit ihren Videoinstallationen politische Statements. Und gibt gesellschaftlichen Minderheiten eine ästhetische Plattform. Sara Schausberger hat die erste Einzelausstellung der marokkanisch-französischen Künstlerin in Österreich besucht.

Ein junger Mann sitzt auf einer Fensterbank in New York, den Blick nach draußen. «Der amerikanische Traum bringt dich hierher», erzählt er und stellt dann fest: «Der amerikanische Traum ist aber nur für diejenigen, die Geld haben.» Er hat kein Geld, und er wird als illegaler Immigrant in den USA wohl auch niemals reich werden. Es berührt, wenn der gebürtige Afrikaner Aliouné in Bouchra Khalilis Videoarbeit Speeches – Chapter 3: Living Labour sagt: «Manchmal frage ich mich, was ich hier mache.»

In Khalilis Film erzählen Immigranten und Immigrantinnen, die in New York ohne gültige Papiere leben, von ihren Jobs: «Bevor ich über die Grenze kam, dachte ich, dass hier alles einfach sein würde», «Für Immigranten ist Amerika ein Gefängnis» und «Als Arbeiter muss man seine Würde schlucken». Es sind erschütternde Sätze, die die Protagonist_innen in «Living Labour» von sich geben.

Die marokkanisch-französische Künstlerin Bouchra Khalili setzt mit ihrer künstlerischen Arbeit ein politisches Statement. Jedes ihrer Projekte kann als Plattform für Mitglieder von gesellschaftlichen Minderheiten betrachtet werden. In ihrer ersten österreichischen Einzelausstellung in der Wiener Secession sind drei Arbeitszyklen zu sehen: The Speeches Series (2012 –2013), Foreign Office (2015) und The Tempest Society (2017).

Die Künstlerin arbeitet hauptsächlich mit Filmmaterial. Die Schau in der Secession ist keine Ausstellung, die sich im Vorbeigehen erschließt. Insgesamt zweieinhalb Stunden Videoarbeit sind in der Galerie des Wiener Museums zu sehen. Um ihre Bandbreite und Tiefe zu erfassen, sollte man sich dafür Zeit nehmen.

Migration als Thema. Bouchra Khalili wurde 1975 in Casablanca geboren und wuchs sowohl in Marokko als auch in Frankreich auf. Sie hat in Paris an der Sorbonne Film und an der École Nationale Supérieure d’Arts de Paris-Cergy Bildende Kunst studiert. Die vielfach ausgezeichnete Künstlerin hat in renommierten Museen ausgestellt, wie etwa dem MoMa in New York, der Lisson Gallery in London und dem Palais de Tokyo in Paris. Sie lebt im Moment in Berlin und unterrichtet zeitgenössische Kunst an der Nationalen Akademie der Künste in Oslo.

Größere Bekanntheit erlangte die Künstlerin mit der Installation The Mapping Journey Project (2008–2011). Die frühe Arbeit besteht aus acht Videokanälen, in denen Migrant_innen auf einer Landkarte ihre Routen nachzeichnen. Es sind nur ihre Hände zu sehen, während sie erzählen, wie sie von A nach B gekommen sind. Im Laderaum eines Lastwagens, in einem Boot, zu Fuß. Die Installation ist so aufgebaut, dass sie bei den Betrachter_innen selbst das Gefühl hervorruft, auf Reisen zu sein. Das Publikum wandert zwischen Leinwänden durch den Ausstellungsraum und bahnt sich seinen eigenen Weg durch die persönlichen Geschichten. The Mapping Journey Project kann als Wegbereiter für Khalilis Folgewerke betrachtet werden.

Migration als Thema setzt sich in allen Arbeiten der Künstlerin fort. Khalili arbeitet mit dokumentarischen Verfahren. Im Fokus stehen Menschen und ihre Geschichten sowie Geschichte als Historie. In ihren oft mehrteiligen Installationen schreibt die Künstlerin eine Art «alternative Geschichte». Indem sie Mitglieder gesellschaftlicher Minderheiten selber erzählen lässt, stellt sie der kollektiven Historie eine individuelle Geschichte gegenüber und gibt Minoritäten eine Stimme. Ihr Fokus liege nicht auf Politik, wie sie in einem Interview erzählt, sondern auf Widerstand als eine Form der Poesie.

Entdeckungsreise. Der erste Raum der Wiener Einzelausstellung verdeutlicht, was Khalili damit meint. Die Installation The Foreign Office besteht aus einem Siebdruck, drei Fotos und einem Video. Der Siebdruck The Archipelago zeigt einen abstrahierten Plan der Stadt Algier. Darin eingezeichnet sind lediglich die Hauptquartiere der Widerstandsgruppen, die in den 60er Jahren in Algier stationiert waren. Auf den Bildern, die gegenüber der großen Videoleinwand hängen, sind eine alte rosa Rutsche, auf der schon lange kein Kind mehr gerutscht ist, eine Freilichtbühne aus Stein, auf der schon lange niemand mehr gestanden ist, sowie ein Bündel verwelkter Blumen zu sehen. The Foreign Office wirft einen Blick in die Vergangenheit. Eine junge Frau und ein Mann aus Algerien führen in dem Essayfilm einen Dialog miteinander. Das inszenierte Gespräch widmet sich der Historie des Landes. Der in drei Kapitel unterteilte Film ist wie eine archäologische Entdeckungsreise. Es geht um die Dekade zwischen 1962 und 1972, nachdem Algerien die Unabhängigkeit erreicht hatte und sich Algier zu einem Mekka für Revolutionäre entwickelte. Viele internationale Widerstandsgruppen kamen in der Zeit in die Stadt. Nelson Mandelas African National Congress ANC etwa oder die Black Panther Party. Nur wissen das die wenigsten. In der Schule in Algerien hört der Geschichtsunterricht mit dem Jahr 1962 auf. In ihrer Installation erzählt Khalili diese unbekannten Geschichten und greift historische Fakten auf, die einem ganzen Land verschwiegen werden.

Ein Korb voller Geschichten. In Nordafrika sei die mündliche Erzähltradition enorm wichtig, sagt Khalili in einem Publikumsgespräch in der Londoner Lisson Gallery. Sie selber trage einen Korb voll mit den Geschichten, die ihr von ihren Eltern erzählt worden sind, mit sich herum. Aus diesem Korb würde sie nach und nach die Themen für ihre Arbeiten hervorholen. Der Korb muss voll gesellschaftspolitischer Stoffe sein. In ihren dokumentarischen Filmessays, setzt Khalili einen starken Fokus auf ethische und historische Fragen. Sie stellt die Verbindung von kolonialer und postkolonialer Geschichte her und setzt sie in Beziehung zur heutigen Migrationsbewegung. Khalili sagt, dass all ihre Arbeiten in ihrer eigenen Vergangenheit wurzeln. Als Teenagerin in Casablanca beobachtete sie eine ganze Generation (ihre eigene), die bereit war, das Land zu verlassen. Das Jahr 1991 bezeichnet sie als Zäsur: Durch das Schengen-Abkommen wurde Europa zu einem beinahe grenzenlosen Raum. «Für uns in Marokko wurde es das Gegenteil.» Davor war es einfach, nach Europa zu kommen, solange man die richtigen Dokumente hatte.

Migration ist auch das Thema der schon eingangs erwähnten dreiteiligen Arbeit Speeches im zweiten Raum der Ausstellung. Auf drei kleinen Monitoren läuft jeweils ein Kapitel. Es sind berührende Kurzfilme. In Chapter 1 – Mother Tongue rezitieren Migrant_innen Texte von antikolonialen Dichtern und Kritikern, die in ihre Muttersprache übersetzt wurden. Es sind allesamt Sprachen, die keine eigene Schrift besitzen. Chapter 2 – Words on Street konzentriert sich auf die Frage der Bürger_innenschaft in der heutigen globalisierten Welt. Und das dritte Kapitel fokussiert, wie schon beschrieben, die Themen Arbeit und Ausbeutung in New York.

Sturm ins Heute. Den Abschluss der Wiener Ausstellung bildet die großartige 60-minütige Filmarbeit The Tempest Society. Der Essay wurde letztes Jahr auf der documenta 14 in Athen gezeigt und war eines von wenigen Kunstwerken, die einen direkten Bezug auf die aktuelle Situation in Griechenland nahmen. In The Tempest Society gründen drei Personen im heutigen Athen eine Theatergruppe. Die drei kommen aus unterschiedlichen Ecken: Ghani ist ein Mitglied und Sprecher von 300 Arbeitsimmigrant_innen im Hungerstreik, Katerina wurde in Griechenland geboren und ist dennoch ohne Papiere, und Malek ist ein junger syrischer Flüchtling. Zusammen sind sie bestrebt, anhand von Theater den aktuellen Zustand von Griechenland, Europa und dem Mittelmeer zu erkunden. Sie nennen sich The Tempest Society. Ein Tribut an die legendäre Pariser Theatergruppe mit dem arabischen Namen Al Assifa – auf Deutsch Der Sturm oder auf Englisch eben The Tempest –, die in den 1970er Jahren von einem Arbeitsmigranten aus Nordafrika und zwei französischen Student_innen gegründet wurde. Das Kollektiv stand für die Rechte illegaler Arbeiter_innen ein und thematisierte den täglichen Kampf gehen Ungleichheit und Rassismus in Frankreich im Format einer «theatralischen Zeitung».

The Tempest Society schafft den Sprung von der Vergangenheit ins Heute. Die 68er-Bewegung, die heuer ihr 50-jähriges Jubiläum feiert, hinterlässt in der Anlehnung an die Theatergruppe von damals ihre direkten Spuren. Historisches strahlt in die Gegenwart hinüber. Für die Künstlerin ist ihr Filmessay keine Dokumentation und kein Spielfilm, sondern eine Hypothese, in der die Bühne zu einem öffentlichen Ort der Bürger_innen wird.

Es ist gut, dass die Secession Khalilis streng konzipiertes und ethisches Werk nach Wien holt. Die Raumsituation macht die Ausstellung allerdings etwas schwierig. Die drei Räume sind so knapp nebeneinander gelegen, dass sich die einzelnen Soundspuren vermischen. Das ist schade. Dadurch geht etwas von der Konzentration verloren, die man für die dichten Filmessays eigentlich bräuchte. Denn gerade jetzt, wo in Europa die Grenzen immer dichter gemacht werden, wo der Präsident der Vereinigten Staaten sagt: «A nation without borders is not a nation», der Rechtsruck verschärft wird, setzen Khalilis berührende Arbeiten ein wichtiges Zeichen.

 

Bouchra Khalili

Secession (1., Friedrichstraße 12)

Dienstag bis Sonntag, 10–17 Uhr

Am 17. Juni, dem letzten Tag der Ausstellung, findet um 12 Uhr die

Österreich-Premiere von Bouchra Khalilis neuem Film Twenty-Two Hours im Stadtkino (1., Akademiestraße 13) statt. Danach gibt es ein Gespräch mit der Künstlerin.