Wien – Bratislava – Székesfehérvár – BudapestDichter Innenteil

Ein Reisebericht

I. Imitation eines Abenteuers

Bis vor Kurzem wusste ich nichts anzufangen mit der Redewendung, dass etwas aus der Zeit gefallen sei. Erst jetzt, wo ich mit einigem Abstand auf meine Wanderung zurück schaue, die mich von Wien über Neusiedler- und Plattensee, Székesfehérvár und Esztergom nach Budapest geführt hat, erkenne ich, dass ich an diese Reise denke, als wäre sie die Reise eines Anderen.

Illustration: Birgit Petri

Schritt für Schritt und Satz für Satz muss ich sie neu zusammenfügen, muss die Teilchen vor mir ausbreiten und nummerieren, als Archäologe meiner eigenen Erinnerung. Und langsam beginne ich zu verstehen, dass wirklich ich es war, der sich 620 km zu Fuß durch Österreich und Ungarn bewegt und in der Donau-Au unter ein paar Weiden geschlafen hat, dass wirklich ich bei Tömörd nur knapp einem Jäger entgangen und in Zalaszántó, nahe dem ungarischen Kurort Héviz, unerwartet auf das größte buddhistische Heiligtum Europas gestoßen bin. Dieses ich aber bin auch nicht ich, ist vielmehr ein Abenteurer, dessen Leben ich vier Wochen lang imitiert habe.

Weggegangen bin ich im Traum, schläfrig, mit kurzem Blick, den Anschluss versäumend und dann allein am Busbahnhof Donaustadtbrücke wartend, Asphalt unter, Beton hinter, Wolken über mir: Regen kündigte sich an, kam aber nicht. Dafür nach einer Stunde der nächste Bus. Ich fuhr also in Richtung Lobau und stieg am Ölhafen aus, der östlichsten Station des öffentlichen Wiener Stadtverkehrs. Durchquerte das Öltank-Lager der OMV und erreichte den Marchfelder Damm, dem ich für die nächsten zwei Tage folgen würde.

Nachdem ich ein paar Kilometer gegangen war, bog der Weg nach links Richtung Schönau ab. Der Damm lief gerade weiter. Und ich dachte, dass ich nun gar keine Lust auf dieses Schönau hätte, keine Lust auf Autoverkehr und auf Frauen mit Einkaufstaschen, keine Lust auf säuberlich gepflegte Blumenbeete und makellose Ortsstraßen, und ging, wenngleich hier auch kein richtiger Weg mehr zu sein schien, auf dem Damm weiter.

Der nach weiteren zwei Kilometern abrupt endete. Ein kleiner Abhang führte zu einem Bach, der mir den Weg abschnitt. Links von mir sah ich Sumpf, rechts das breite Flussbett der Donau. Und ich war, während ich mich zugleich ein wenig ärgerte, dankbar für diese erste Gelegenheit zu einem Abenteuer, fühlte etwas in mir aufleben vor Nervosität und Freude, und kletterte den Steilhang hinunter. Blieb dort und da mit dem Rucksack hängen, dornige Zweige zerkratzen mir Handrücken und Waden, und gerade das war ein so schönes Gefühl. Zog meine Schuhe aus, schnallte den Rucksack ab und hielt ihn, während ich den Bach furtete, über meinem Kopf.

Nun würde ich gern sagen können, das Wasser sei eisig gewesen, es habe mir die Beine fortzureißen gedroht, neben mir seien die Forellen aufgegangen; würde gern sagen, ich habe diesen Fluss furten müssen, um weiterzukommen, würde all das gern sagen und muss doch zugleich über mich lachen. Wenn mich jemand beobachtet hätte, ich wäre auch von ihm ausgelacht worden für meine Abenteurergesten, für die Ernsthaftigkeit, mit der ich durch das Wasser watete (als Kinder haben wir in gefährlicheren Bächen gespielt), dass ich meine kurzen Hosen noch hochgekrempelt und den Rucksack über den Kopf genommen hatte, wo mir das Wasser doch kaum bis an die Knie reichte. Und als ich abends dieses erste Erlebnis in meinem Tagebuch vermerken konnte, war ich trotzdem so froh und so stolz: Endlich wieder etwas erleben, das man auch fühlen konnte!

Mein Tagebuch quillt über vor Begeisterung für alles, was mir auf diesen ersten Kilometern begegnet war. Und immer wieder ist ein Wort zu lesen: «berührt». Ich sei berührt von der Weise, wie die jungen Weiden vom Boden aufschössen und die üppigen Sträucher zu durchwachsen versuchten, berührt vom Flattern der Stare in den Bäumen, berührt vom tausendfachen Grün der Blätter, vom Anthrazitbraun der Baumstämme, von den beschatteten Winkeln des Waldes, tiefschwarz (wie ein dunkles Versprechen), berührt schließlich von einer Begegnung mit einer Großmutter und ihrer Enkelin, die vor mir dahinspazierten, mich nicht kommen hörten und furchtbar erschraken über mein plötzliches Auftauchen, zuerst das Mädchen, dann, durch das Erschrecken der Enkelin erschrocken, auch die Großmutter, die das Mädchen an sich riss und es zum Schutz umarmte.

Am nächsten Tag kam ich nach Hainburg, ging weiter bis Wolfsthal und auf die Hundsheimer Berge zu, die letzten Erhebungen vor dem Beginn der pannonischen Ebene. Mein Weg endete aber schnell an einem Zaun und ich sah ein gelbes Schild, Jagdübungsgebiet, Betreten nur gestattet von dann bis dann, Verlassen des markierten Weges verboten. Über eine Doppelleiter überstieg ich den Zaun, ging der Markierung entlang und hatte den Weg auch schon verloren. Ging also einen unmarkierten Weg weiter: eine Forststraße, übersät mit kleinzerbrochenem Holz auf durchwühltem Boden. Solche Hinterlassenschaft kannte ich nur aus meiner Zeit beim Militär, wenn wir mit unseren Panzern herumgefahren waren. Dann sah ich Schießstände. Und Stiefelspuren. Keine Stelle, auch nicht abseits der Forststraße, die nicht aus Erdhäufchen und Erdgruben bestand, überall zerfledderte Blätter und zertrampelte Äste. Schmale Pfade zogen sich quer über den steilen, bewaldeten Hang und manchmal waren seltsame Kuhlen im Boden zu sehen. Ich kletterte einen Hügel hinauf, denn mitten im Wald war eine Lichtung, die sich aber als dicht bewachsen herausstellte, und so war auch hier kein besseres Fortkommen. Dann, zurück im Wald, tiefe Trittspuren und Fellstücke. Hier musste ein Kampf stattgefunden haben. Ich ging weiter, schon etwas beunruhigt, auch schon wieder etwas stolz. Immer dichter standen Gräser und Sträucher. Bis ich – und nun war ich wirklich dort, wo ich nicht hingewollt hatte – ein Schnauben hörte. Ich blieb stehen. War es vor, war es hinter oder neben mir gewesen? Ich wartete. Ich schlug die Wanderstöcke gegeneinander. Nichts geschah. Ich klatschte in die Hände. Und erhielt als Antwort ein Grunzen und ein Rascheln, dann kam ein Wildschwein aus den Büschen, querte den Weg, verschwand in anderem Gebüsch. Zum ersten Mal auf dieser Wanderung spürte ich Adrenalin.

II. Wie mich mein Großvater traf

Am Osthang des Bergs gab eine weitere Lichtung den Blick auf Bratislava frei. Ich konnte die Plattenbauten sehen und die Autobahnen, den Burghügel und obenauf die Preßburger Burg. Ich stellte mir vor, wie es ausgesehen haben mochte, als sie brannte. Wie es ausgesehen haben mochte, als die Rote Armee über die Ebene heranrollte. Wie sich der Krieg eigentlich angehört, ob man ihn hatte riechen können. Im April 1945.

Mein Großvater war mit sechzehn zur Wehrmacht eingezogen, später in Russland verwundet worden. In Wien stationierte man ihn bei einer Reserve-Einheit, und schickte, als die Rote Armee längst Budapest eingenommen und sich über die Slowakei und Ungarn Richtung Wien vorgekämpft hatte, eine kleine Einheit zur Verteidigung hierher, und mein Großvater musste mit. Er habe, als er auf den Hundsheimer Bergen gelegen sei, die Panzer nach Kittsee einfahren und die Preßburger Burg in Flammen stehen sehen, hatte er erzählt und mir in seinem alten Mittelschulatlas gezeigt, wo er in etwa stationiert gewesen war, wo er die Panzer, wo die Infanterie gesehen und wohin er sich nach zwei Tagen aussichtslosem Kampf – Wir haben da mit unseren Gewehren auf Kittsee runtergeschossen – geflüchtet hatte, gemeinsam mit einem Kameraden. Da war er gerade neunzehn Jahre alt.

Das Aufgewühlte des Bodens wühlte nun mich auf. Längst nicht mehr der Wildschweine wegen. Die Vorstellung, dass mein Großvater hier, auf demselben Hügel, auf denselben Wegen, vielleicht zwischen denselben Bäumen herumgerannt war, eine übermächtige Armee heranrücken gesehen und nicht gewusst hatte, was am nächsten Tag, in der nächsten Stunde geschehen würde, berührte – nein – traf mich. Ich wusste, dass er gemeinsam mit seinem Kameraden auf einem kleinen Boot über die Donau gesetzte hatte, dass das Boot beschossen und versenkt worden, dass sein Kamerad dabei umgekommen war, und dass er selbst sich auf eine der kleinen Inseln hatte retten können; dass er dort ein anderes Boot gefunden hatte, weitergeflohen und schließlich doch den Russen in die Hände gefallen war. Ich fühlte mich an dieser Stelle, wo sich ein Moment aus seinem Leben mit einem Moment aus meinem Leben traf, so aufgeregt und kam mir gleichzeitig so schäbig vor. So schäbig, weil ich an das Furten des Baches und an das Durchqueren des Wildschweinreservats denken musste und mich bei der Vorstellung ertappte, dass es ein noch gewaltigeres und bewegenderes Erlebnis gewesen sein musste, Teil solcher großen Ereignisse zu sein, wie es mein Großvater gewesen war, die Rote Armee heranrücken und den Zweiten Weltkrieg zu Ende gehen zu sehen. Die Lächerlichkeit meiner Abenteuerwut und die Naivität, die sich mit ihr verband, standen mir plötzlich klar vor Augen und die Gewissheit, dass jeder, der auf diese Weise mit der so genannten Weltgeschichte konfrontiert gewesen war, mich für meine Adabei-Sehnsucht verprügeln würde.

III. Staumauern, Ausuferungen, Überlaufzonen

Königswarte, Rundblick: Slowakei, Ungarn, Österreich. Konnte es sein, dass die drei Länder von hier oben wirklich zu unterscheiden waren? Die Grenze zwischen der Slowakei und Österreich jedenfalls ließ sich exakt ausmachen. Wo auf der österreichischen Seite Kukuruzfelder lagen, stand gegenüber, auf slowakischem Gebiet, Betonbau an Betonbau: Ein Panzer aus Wohnraum. Was für eine Obszönität, die damals tschechoslowakischen Bürger in den Westen hinüberschauen zu lassen und sie zugleich als Schutzschild dagegen zu verwenden. Das Ausufern einer Ideologie, dachte ich auf der Aussichtswarte stehend, und entdeckte hinter Bratislava das Staukraftwerk Gabcíkovo; eine Wasserfläche, die sich in selbstgefälliger Ruhe über das Land breitete. Angeblich hatte Stalin den Plan, die Donau so weit mit Kanälen und Staustufensystemen auszubauen, dass die sowjetische Marine im Kriegsfall bis an den Eisernen Vorhang fahren konnte. Auf der anderen Seite der Aussichtsplattform schaute ich in die Tiefebene, bis weit nach Süden hinunter. Dort ist Ungarn, dachte ich, dort werde ich die nächsten Tage weitergehen. Wie sich herausstellen sollte, lag ich falsch und ein Großteil der Ebene, der Felder und Wege waren noch auf österreichischem Staatsgebiet.

Bald hatte ich die ersten 250 Kilometer hinter mir, war von Bratislava aus der österreichisch-ungarischen Grenze entlang gewandert, hatte im Neusiedlersee gebadet und im Deutschkreutzer Schulpark geschlafen und erreichte nun Lutzmannsburg, wo ich Österreich verließ und durch das Komitat Vas in Richtung Balaton ging.

Der Schritt über die Grenze, ein Schritt wie tausend andere zuvor. Aufgeladen nur durch den Willen zur Bedeutung. Üdvözöljük Magyarországon! Nicht einmal die Asphaltierung der Straße änderte sich. Dafür aber lag der Grenzübergang Lutzmannsburg, als würde man sich für ihn schämen, versteckt hinter der Thermenlandschaft. Die Straße musste sich zwischen den zusammendrängenden Glashotels herauswinden, musste vor großen, schon in der Morgenhitze flimmernden Parkplätzen zur Seite springen und einer Garage, die ihr vorgepflanzt worden war, ausweichen, erst dann durfte sie sich nach Ungarn ausstrecken. Wie schon in Wolfsthal und in Kittsee wurde mir auch hier deutlich, dass die Welt an dieser Stelle einmal zu Ende gewesen war. Und ein bisschen ist sie es noch heute.

Lutzmannsburg, wo man in der Nacht zuvor «Weinkost» gefeiert hatte, lag halb im Koma, dagegen radelten in Zsíra die Frauen schon über die Dorfstraße. Körbe mit leeren Getränkeflaschen baumelten an ihren Lenkstangen. Alte Männer rauchten, während sie kurzschrittig nebeneinander her gingen, ihre Morgenzigaretten und grüßten, wenn ich Guten Tag wünschte, mit skeptischem Nicken zurück (Skeptisch? Wirklich?). Kinder rannten barfuß (Nein, nicht barfuß.) am Gehsteig entlang, und ein paar Mütter, ebenfalls mit Einkaufskörben und leeren Getränkeflaschen, gingen hinter ihnen her. Die mutmaßlichen Väter sah ich in Autos an mir vorbeifahren (Rostige Ladas, stotternde Trabis… Wohl eher Toyotas, Fiats, Volkswägen, fast immer neu und glänzend, mit fast immer offenen Seitenfenstern, aus denen fast immer ein Ellenbogen ragte).

Nach dem ersten Dorf das nächste und übernächste. Die ungarischen Siedlungen waren den burgenländischen Straßendörfern ähnlicher als erwartet, und ich bemerkte die Unterschiede erst beim zweiten Mal Hinschauen: Hier gab es noch zu beiden Seiten der Dorfstraße einen offenen Abwassergraben und kleine Stege führten über ihn hinweg zu den Hauseingängen. Hier schien die Gasversorgung ein dauerhaftes Provisorium zu sein, die rostigen Rohre kamen irgendwo aus dem Boden, liefen freiliegend an den Hausfundamenten entlang und verschwanden in notdürftig verputzen Mauerlöchern. Und jedes Dorf hatte eine Allee aus Obstbäumen, meist Zwetschken, die jetzt, Anfang August, reif waren. Oft ging ich hungrig in ein Dorf hinein und kam satt wieder heraus, ohne ein einziges Mal angehalten zu haben; man konnte im Vorbeigehen das überreif zu Boden gefallene Obst, um das sich niemand zu kümmern schien, aufklauben und sich den Bauch damit vollschlagen. Dazwischen standen Apfel-, Birn-, Pfirsich- und Feigenbäume. Einmal überfiel mich die Gier sosehr, dass ich mein T-Shirt zusammenraffte und so viele Früchte einfüllte, dass ich sie später doch wieder zur Hälfte in eine Wiese werfen musste, weil die Menge nicht zu bewältigen war. Diese Üppigkeit hatte ich nicht erwartet, nicht hier, nicht in Ungarn, das ich mir tiefebenen-trocken und puszta-staubig vorgestellt hatte. Nun klebten mir die Finger vom zuckersüßen Obst, das von der Sonne auf Kompotttemperatur erwärmt worden war.

Dort und da gab es auch öffentliche Hydranten, an denen die Frauen ihre Getränkeflaschen befüllten. Obwohl eigentlich ein jedes Haus seinen eigenen Brunnen hatte. Diese waren aber, wegen mangelnder Winterfeuchte, ausgetrocknet.

IV. Zwei nächtliche Besuche

Jeden Abend war die Luft so mild und der Nachthimmel so schön, dass ich keinen Grund sah, mein Zelt aufzubauen. Nichts störte mich im Schlaf und trotzdem schlief ich nie ganz unbesorgt. Nicht etwa die Angst, aber ein unwillkürliches In-Verbindung-bleiben mit der Umgebung ließ mich nicht richtig zur Ruhe kommen. Ich konnte, wie man so sagt, nicht abschalten.

Zum Beispiel am neunten Tag meiner Reise. Da musste ich in den ausgedehnten Waldgebieten bei Tömörd erkennen, dass ich vor Einbruch der Dunkelheit den nächsten Ort nicht mehr erreichen würde. Ich hätte es gern vermieden im Wald zu schlafen, aber an diesem Abend gab es keine Alternative. Neben der Forststraße fand ich einen Geräteschuppen, der zwar versperrt war, aber doch ein wenig Abschirmung bot. Ich machte mir dahinter ein Lager und breitete den Schlafsack aus, als ich von Weitem ein Fahrzeug hörte. Mitte August, sternklare Nächte und, wie ich gelesen hatte, Wildschwein-Überpopulation. Jagdzeit. Das Fahrzeug kam langsam die Straße herunter. Und blieb, wie es mein Unglück wollte, genau auf der anderen Seite der Hütte stehen. Jemand stieg aus. Ein Hund bellte. Ich erwartete, gleich entdeckt zu werden, aber die Schritte entfernten sich. Machten Halt und kehrten um. Gingen wieder auf mich zu, machten erneut Halt. Ich hielt mich so ruhig ich nur konnte und atmete flach. Und schlief hinter der Hütte sitzend ein.

Als ich erwachte, war es dunkel. Ich wusste nicht, ob der Jäger fort oder noch hier war. Ich bleib weiter ruhig sitzen, blickte mich im Wald um, betrachtete das matte Leuchten der Farne, schaute die Stämme der Föhren hinauf, bis in die Baumkronen, die sich wie Scherenschnitte vor dem kartongrauen Himmel abzeichneten. Manchmal knackste Holz. Manchmal fiel irgendwo ein Zapfen zu Boden. Ein Vogel landete kaum hörbar auf einem Ast, wenige Meter von mir entfernt, ein hellbraunes Tier mit rundem Kopf. Es musterte mich mit scheelem Blick. Eine Eule. Sie wippte vor und zurück, ohne den Blick von mir abzuwenden. Meine Anwesenheit schien ihr nicht zu behagen. Dann breitete sie kurz ihre Flügel aus, weil sich eine zweite Eule neben sie setzte. Bald kam eine dritte und eine vierte, bis mir eine ganze Gruppe Eulen gegenübersaß und mich mit schräg gelegten Köpfen anschaute. Eine, die sich (oder mir) etwas beweisen wollte, holte Schwung und stieß sich vom Ast ab. Ließ sich in ihre Flügel fallen und kam direkt auf mich zu. Stieß plötzlich einen Pfiff aus, zog eine Kurve und landete auf dem Dach des Schuppens. Ein Augenblick verging. Dann startete die zweite. Nach und nach flogen sie nun über mich hinweg, auf mich zu, an mir vorbei. Mir schlug das Herz im Hals.

V. Welchen Bildern kann man trauen?

Später, auf dem Weg zum Balaton, kam ich westlich von Sárvár durch ein Gehöft, das mich beeindruckte. Zwei Wohnhäuser und fünf Wirtschaftsgebäude. Lang schon verlassen. Groß und ungeheuer ernst lagen die Bauten vor mir. Ungeheuer auch die Stille, die zwischen ihnen war. Das Gras wuchs in die Fenster, die Zäune fielen ein und nur ein einziger Schuppen schien noch als Garage benutzt zu werden. Hinter den Gebäuden führte eine erdige Straße in die Felder. Staub auf den Sträuchern und tiefe Fahrspuren zeigten, dass hier mit schwerem Gerät gearbeitet wurde. Da kamen sie auch schon auf mich zu, zwei Zugmaschinen mit Jauchewägen. Sie konnten, wie die Aufschrift auf den verzinkten Anhängern behauptete, jeweils sechsundzwanzig Kubikmeter Gülle fassen. Am Steuer, in den hoch aufragenden Kanzeln, saßen junge Männer, beide kaum älter als achtzehn oder zwanzig. Ohne die Fahrt zu verlangsamen, rauschten sie an mir vorbei. Nur wenig später – der Gegensatz erschien mir selbst grotesk – überholte mich ein gespenstischer Einspänner. Ein fleckig braunes Pferd schleppte müde einen Leiterwagen. Am Kutschbock saß ein grauer Mann. Sie hatten nichts geladen als morsche Äste.

Die Eulen. Die verfallende Kolchose. Die glänzenden Neuwagen. Der Alte mit seinem müden Pferd. Die riesigen Landmaschinen. Welchem Bild konnte man trauen?

VI. Im Backstagebereich der großen Magyarenshow

Der Mönch nickte mir freundlich zu, als ich in den Raum kam. Er erkannte, dass ich nicht wusste, wie man sich beim Betreten des Tempel zu verhalten hatte und wies, ohne seinen Betgesang zu unterbrechen, auf einen leeren Platz. Ich setzte mich zwischen die anderen Meditierenden auf einen der vielen Polster. Der Mönch schlug einen Gong und fuhr in seinem Gebet fort. Hinter mir stand das kleine Fenster offen, durch das ich schon von außen den Singsang des Geistlichen und ein Glockenspiel gehört hatte. Ich faltete, weil ich nicht wusste, was sonst zu tun war, die Hände und schloss meine Augen. Am dreizehnten Tag meiner Reise war ich von Sümeg durch das Kesthelyer Hügelland in Richtung Balaton gewandert, war eine steile Straße hinauf gegangen, weil ich dort mehrere Gruppen junger Menschen gesehen hatte. Offensichtlich hatten sie ein gemeinsames Ziel, und da war ich neugierig geworden, ihnen gefolgt und wenig später vor dem Stupa von Zalaszántó gestanden, einem der größten buddhistischen Heiligtümer Europas.

Was immer ich an Bildern von Ungarn im Kopf gehabt hatte, das Land präsentierte sich nun ganz anders. Hier gab es keine Steppen, keine weiten Ebenen, keine Reiter, Würste, Paprikas, keine Zigeunermusik, keine Erinnerungen an die Monarchie und keine stolzen großungarischen Patrioten. Ich fand mich, im Gegenteil, in einem waldreichen Land mit vielen kleinen Bergen voll üppiger Vegetation, fand mich auf schwarzen Vulkankegeln und in farbenfrohen Dörfchen, fand mich schließlich zusammen mit einer Handvoll junger Menschen in einem tibetischen Tempel und feierte meine erste buddhistische Andacht. Es kam mir so vor, als sei ich hier, im ungarischen Mittelgebirge, gleichsam im Backstagebereich des Landes, weit hinter all den Fassaden und Masken, die man sich sonst für das erfolgreiche nationale Auftreten zu- und anlegte.

Die große Magyarenshow fand dann einige Kilometer entfernt statt, am Balaton, in Keszthely und Balatonfüred. Dort geigten die Geiger und tanzten die Tänzer, dort wehten ungarische Flaggen und selbstverständlich gab es Lángos und Gulyás und alles war auf Deutsch angeschrieben.

Am 19. August, dem Vorabend jenes Nationalfeiertags, an dem der Staatsgründung im Jahre 1000 gedacht wird, erreichte ich Székesfehérvár. Hier hatte Stefan I. residiert, Szent István Király, jener König, der das ungarische Reich gegründet hatte und später heilig gesprochen wurde; hier fand man bei archäologischen Forschungen die Reste einer romanischen Basilika und ein Grabmal, das man als die letzte Ruhestätte Stefans identifizierte. In der viel kritisierten neuen Verfassung, die die aktuelle Regierung unter Viktor Orbán, der ebenfalls aus Székesfehérvár stammt, dank ihrer Zweidrittelmehrheit auch ohne Rücksichtnahme auf andere politische Kräfte beschließen konnte (und in der der «Republik Ungarn» die Republik weggenommen wurde; das Land heißt seitdem schlichtweg «Magyarország»), in dieser neuen Verfassung also wird ausdrücklich auf die Kontinuität der Stefan’schen Staatsidee, auf die christliche Gesinnung das Landes und die Heiligkeit der Stefanskrone hingewiesen. Ich erwartete für den folgenden Tag ein Fest der Nationalisten, Reden gegen die Bevormundung durch EU und internationale Banken, eine Trauerveranstaltung für das 1920 durch den Vertrag von Trianon zerrissene Großungarn.

Und schlenderte, weil ich nichts verpassen wollte, am nächsten Morgen schon um acht Uhr durch die Stadt. Die Cafés hatten geöffnet, waren aber so gut wie leer. Auch auf den Straßen war kaum jemand zu sehen. Auf den Terrassen, in den Gastgärten und den Parks, nirgendwo eine Menschenseele. Weil die Nationaltagsfeier scheinbar später begann, als ich erwartet hatte, beschloss ich, zuerst die Stefansbasilika zu besichtigen.

Ich fand sie bis auf den letzten Platz mit festlich gekleideten Ungarn gefüllt. Am Altar zelebrierte der Priester das Gabengebet und die Menschen begannen nach vorn zu drängen, um die Kommunion zu empfangen. Ähnlich die Situation in der St.-Anna-Kapelle, wo man soeben die Wandlung feierte. Und zur Karmeliterkirche kam ich, als die Orgel gerade den Auszug anstimmte. Die Menge erhob sich, rückte aus den engen Bänken heraus und bewegte sich langsam zum Kirchentor. Draußen ging es zügig weiter, Richtung Stadtzentrum, ein breiter, zielstrebiger Strom an Fußgänger_innen, und niemanden sah ich, der sich der Bewegung entgegenstellte oder frühzeitig abbog. Über den Stefansplatz und am Árpád-Bad vorbei, dann die Treppe hinauf zur Basilika, von wo ich zuvor gekommen war. Dort warteten nun schon hunderte Menschen in der Vormittagssonne. Am Kirchenplatz hatte man Lautsprecher aufgebaut, und einige Klappstühle waren für die älteren Besucher herbeigeschafft worden. Mit dem Vollgeläut der Glocken begann der nächste Gottesdienst, die große Messe zu Ehren des Heiligen Stefan. Die Menschen folgten dem Geschehen hoch aufmerksam, während sie ihre Position kontinuierlich korrigierten, Zentimeter für Zentimeter, um die wenigen Schattenplätze möglichst auszunutzen. Der Ernst, mit dem diese Messe, trotz der wachsenden Hitze, gefeiert wurde, schien sich über die ganze Stadt gebreitet zu haben: Kein Verkehr war zu hören, kein Hupen und auch keine Stimmen, außer die des Priesters, wenn er via Lautsprecher betete, und die der Gläubigen, wenn sie sangen. Das Hochamt dauerte eineinhalb Stunden, dann marschierten alle hinter Blasmusik und Priester, die eine Replika der Stefanskrone mittrugen, von der Kirche zum Rathausplatz: eine Tausendschaft festlich gestimmter Menschen. Wir blieben auf der Promenade stehen und sahen über die Brüstung zum Grab von Stefan I. hinunter, wo Geistliche und Politiker Aufstellung nahmen. Während der Himnusz, die ungarische Nationalhymne, gesungen wurde, begannen viele Menschen zu weinen, manche hielten einander an den Händen, schlossen die Augen. Mir fiel auf, dass niemand eine Ungarnfahne bei sich trug. Und auch später, als der Festakt vorüber war, blieben die Menschen ernst, niemand schrie, pfiff oder jubelte, und nichts erinnerte an die Nationalfeiertage, wie ich sie aus Budapest kannte, mit all dem lauten, angriffslustigen und politisch instrumentalisierten Patriotismus.

VII. Die letzte Etappe


Ich wanderte in den folgenden Tagen nach Norden, über Tatabánya, wo ich den Turul besuchte, einen riesigen Bronzeadler mit Stefanskrone und Schwert, der über der Stadt thront, dann weiter nach Esztergom und zurück Richtung Budapest. 28 Tage war ich nun unterwegs und ich meinte, das Beeindruckendste meiner Reise schon gesehen zu haben.

Den letzten Abschnitt der Wanderung nahm ich allerdings mit der Gyermékvasút, der Budapester Kindereisenbahn. Eine zwölf Kilometer lange Schmalspurstrecke über ein paar bewaldete Erhebungen nordwestlich von Budapest, betrieben von zehn- bis vierzehnjährigen Kindern. Am Schalter des Stationsgebäudes saß ein sommersprossiger Bub. Von meinem deutschen Akzent überrascht, gab er mir irrtümlich eine Kinder- statt einer Erwachsenenkarte, korrigierte seinen Fehler aber, nachdem ich ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, mit professioneller Selbstverständlichkeit und erteilte mir anschließend über Abfahrtszeiten und -bahnsteige Auskunft. In jedem seiner Handgriffe saß der Stolz und die Genauigkeit, die er mit diese Arbeit verband, und auch in der großen Aufmerksamkeit, mit der er mich durchs Glas hindurch ansah, war zu erkennen, wie ernst er seine Aufgabe nahm. Er bedankte sich mit einem kurzen Nicken und wünschte mir einen schönen Urlaub in Ungarn. Ich stieg in den Waggon, wo ich Kindergeschrei und Aufregung erwartet hatte. Aber auch hier herrschte große Feierlichkeit. Ein Mädchen in Schaffneruniform wartete an der Tür und pfiff, als ich eingestiegen war, zur Abfahrt. Dann ging sie von Sitzbank zu Sitzbank und bat um die Fahrscheine. Die Kinderpassagiere wiesen den Kinderschaffnern Zugtickets zur Kontrolle vor und alles geschah mit einer solchen Zärtlichkeit, mit behutsamen Bewegungen, als müsste man vorsichtig sein mit dieser zerbrechlichen Welt.

620 km war ich zu Fuß durch Österreich und Ungarn gegangen, weitere 250 km mit Bus, Zug und Schiff gefahren, hatte meine Lust auf ein bisschen Abenteuer befriedigt, war in Bächen und Seen geschwommen und in Wäldern und auf Wiesen schlafen gegangen, und nun entdeckte ich hier, im letzten Waggon der Gyermékvasút, diesem ehemaligen sozialistischen Pionierprojekt, ein Gefühl, das mich berührte wie nichts zuvor: Zärtlichkeit aus Respekt. Und unweigerlich musste ich an die klobigen Betonbauten vor Bratislava denken, an das Stück Eisernen Vorhang, das ich bei Fert?rákos gesehen hatte, an die mit Riesenmaschinen durchpflügten Felder. Und bald kam ich zurück ins Stadtgebiet von Budapest mit seinen unerträglich lauten Einsatzfahrzeugen, mit seinem weiter und weiter wachsenden Obdachlosenproblem, um das sich niemand zu kümmern scheint, und mit einer Regierung, die der Verarmung, Zersplitterung und Radikalisierung des Landes scheinbar nichts entgegenzusetzen hat.

 

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