Der Autofreie Tag funktioniert in einer Millionenstadt nicht!?
Um herauszufinden, ob das offizielle Wien in Zeiten des Klimawandels vielleicht doch seine Strategie geändert hat, ruft die hoffnungsfrohe Wienerin bei der Stadtinformation an. Die Dame ist sehr hilfsbereit: Schauen wir einmal. Ihr Computer sucht lange und findet die Veranstaltung der Fahrradinitiative Critical Mass (siehe Infokasten). Sonst nichts.
Im Rahmen der europäischen Mobilitätswoche und des Autofreien Tags haben sich bereits 280 österreichische Städte und Gemeinden zur Teilnahme angemeldet, weltweit sind es über 1.300, darunter Barcelona und Yokohama. Die Kampagne widmet sich diesmal verstärkt dem Thema Einkaufs- und Freizeitverkehr sowie der Wiederbelebung von Ortskernen. In Österreich macht der Einkaufs- und Freizeitverkehr bereits 30 Prozent des gesamten Verkehrsaufkommens aus. Die Hälfte dieser Wege wird mit dem Auto zurückgelegt.
Insgesamt ist der Alltag heute wegereicher als noch vor einigen Jahrzehnten, meint Raumplaner und Buchautor Reinhard Seiß (siehe Augustin 203), und je attraktiver der Autoverkehr in einer Stadt gestaltet wird, umso mehr wird er natürlich auch genutzt. Laut Masterplan Verkehr aus 2003 will die Stadt Wien den Autoanteil am Verkehr von derzeit 35 auf 25 Prozent senken.
Eine aktuelle Studie im Auftrag des Energieunternehmens Shell prognostiziert jedoch ganz im Gegenteil eine Zunahme auf 40 Prozent bis zum Jahr 2035! Das scheint nicht unlogisch, kann doch die Stadt Wien den Bund immer wieder von Ausbauten von Schnellstraßen und Autobahnen überzeugen, zuletzt von der S1 und deren Anbindung an die Südosttangente mit der so genannten Hansson-Spange. Preisgünstiges bis kostenloses Parken, das Fehlen einer City-Maut sowie konsequente Beseitigung von Engpässen oder Behinderungen für den Autoverkehr tun ein Übriges: Immer noch werden z. B. Schrägparkplätze auf Kosten der Gehsteigbreite beibehalten.
Die hoffnungsfrohe Wienerin bekommt den Tipp, es doch bei der Umweltberatung zu versuchen. Auch hier zwei sehr freundliche Gesprächspartnerinnen. Sie haben keine Ahnung und verweisen auf die Pressesprecherin des Stadtrats für Verkehr, Rudolf Schicker.
Der Verkehrsstadtrat: Zu radikal
Unter der Maxime Wien verzichtet nicht aufs Auto sagte der Sprecher von Verkehrsstadtrat Schicker bereits 2005, es werde keinen autofreien Tag … geben. Das ist uns zu radikal. Ein autofreier Tag funktioniert in einer Millionenstadt nicht. … Immerhin 18 Prozent aller Wege könnten die Wiener aber auch ohne Komfortverlust mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Fahrrad oder zu Fuß erledigen. Ein aktuelleres Statement ist dem Internet nicht zu entlocken.
Dass jedoch die Verlängerung der bestehenden U-Bahn-Linien sowie der halbherzige Ausbau des Wiener Radwegenetzes allein die Wienerinnen und Wiener dazu bewegen könne, vermehrt aufs Auto zu verzichten, hält Reinhard Seiß für einen frommen Wunsch: Das attraktivste öffentliche Verkehrsmittel wäre die Straßenbahn. Sie bietet am meisten Fahrkomfort, kann durch Vorrangschaltungen an Kreuzungen sowie eigene Gleiskörper gezielt beschleunigt werden und hat durch das geringe Haltestellenintervall ein weitaus größeres unmittelbares Einzugsgebiet als die U-Bahn. Außerdem kostet die Errichtung nur ein Zehntel des U-Bahn-Baus. Andere europäische Städte setzen auf die Tram. In Wien gibt es nach wie vor für viele Straßenbahnlinien den Pseudo-Ersatz U-Bahn oder Bus. Kein Wunder: Der U-Bahn-Ausbau wird zu 50 Prozent vom Bund finanziert!
Insgesamt profitiert die Stadt Wien heute noch von der großzügigen Planung zu Zeiten der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Damals hatte Wien mehr Einwohner als heute, wir zehren also von unseren Reserven.
Im Büro des Stadtrats Schicker wird unsere immer noch hoffnungsfrohe Wienerin nochmals konkret an die Pressesprecherin verwiesen, die aber gerade telefoniere, und überhaupt sei derzeit sehr viel zu tun. Und von wo rufen Sie an? Mühsam ihre Freundlichkeit bewahrend, moniert die Wienerin, dass sie als Privatperson doch nur ein simples Ja oder Nein zu hören kriegen wolle. Ach so, mehr wollen Sie gar nicht wissen? Die Dame verspricht einen Rückruf.
Nutznießer der Wiener Verkehrspolitik sind unter anderem Tiefbauunternehmen wie Porr oder Strabag, die Autozuliefer-Industrie sowie der Erdölkonzern OMV. Während selbst internationale Energiekonzerne wie BP sich vermehrt mit alternativen Energieformen auseinander setzen, ist in Österreich von einem langfristigen Denken wenig zu bemerken. Handelt es sich in Wien um eine Vogel-Strauß-Politik oder um den politischen Unwillen, am Statussymbol Auto trotz katastrophaler Folgen zu kratzen? In anderen Bundesländern (etwa in Vorarlberg und der Steiermark) wird alternative Verkehrspolitik weit entschlossener gelebt.
Die Dame in Schickers Büro ruft tatsächlich zurück: Wien nimmt am Autofreien Tag nicht teil. Es gibt zwar eine Veranstaltung auf dem Rathausplatz, aber Sie haben keinerlei Absperrungen zu befürchten.
Na Gott sei Dank.
INFO 1:
RASEN AM RING:
Samstag, 22. September 2007, 14 Uhr, am Ring vor dem Heldenplatz! Weltweiter Autofreier Tag? Critical Mass fordert die autofreie Stadt und zeigt ihre Vorzüge mit einem für alle offenen Picknick auf Rasenflächen, die die Raser- und Staustrecke Ring bedecken werden! Nichts für AutoholikerInnen!
Critical Mass ist ein Treffen von FahrradfahrerInnen, die sich gelegentlich den Platz auf der Straße nehmen, der ihnen im alltäglichen Verkehr durch jahrelange verfehlte Verkehrs- und Stadtplanung und rücksichtslose Autofahrer verweigert wird.
INFO 2:
Reinhard Seiß: Wer baut Wien? Pustet Verlag, Salzburg 2006