«Selbst zum Musizieren zu faul»: Die Slowakei wird für Roma zum Unort
Die Geschichte spielt in Plavecký tvrtok, einem slowakischen Dorf 16 Kilometer hinter der österreichischen Grenze, in dem der Abriss einer ganzen Roma-Siedlung unmittelbar bevorsteht.
Das auffällig Lebendigste in Gesprächen mit den PassantInnen auf dem «Hauptplatz» von Plavecký tvrtok ist ihr unverhohlener Abscheu vor jenen MitbürgerInnen, die am Dorfrand ihr Leben fristen den Roma.
Sie seien überhaupt anders als andere Roma, Nichtstuer, nicht einmal musizieren würden sie, klagt auch der Bürgermeister. Das stimmt. Aber sie hätten auch keine Möglichkeiten mehr, mit ihrer Musik Geld zu verdienen, denn vom Kirtag im Dorf und anderen Festen schließt man sie seit Jahren unter Androhung von Gewalt aus.
Seit Juni haben sie in ihrer Siedlung auch kein Wasser mehr. Der Bürgermeister ließ es abdrehen. Grund: Die Roma hätten eine Rechnung über rund 500 Euro nicht bezahlt. Niemand hat mehr fließendes Wasser im Haus, es gibt nur noch einen einzigen «Brunnen» in der Siedlung, ein schmutziges Fass mit einem Schlauch, an dem man lediglich zwischen 6 und 8 Uhr früh Wasser holen kann. 600 Menschen, 90 Familien kämpfen nun täglich am Morgen darum, sich damit zu versorgen, den ganzen Tag über gibt es dann keines mehr. Wer leer ausgeht, muss bei der drei Kilometer entfernten Tankstelle sein Glück versuchen. Dies, sagt uns Marija, eine Romni, hätte dazu geführt, dass sich die Roma untereinander mehr und mehr entzweien und auseinanderdividieren, weil jetzt «jeder zuerst auf sich schauen muss».
Die Kinder besuchen nicht mehr die Schule, seit die Polizei, die von der Direktorin gerufen wurde, mehrmals das Schulgebäude umstellte, weil die Roma-Kinder sich mit den anderen in die Haare gerieten, nachdem diese sie als «dreckige Zigeuner» beschimpft hatten. Die Kleinen fürchten sich seitdem, dort hinzugehen und bleiben zu Hause. Marija ist wie alle anderen Erwachsenen, die wir kennen lernten, stolz auf ihre Kinder und sagt es auch. Aber welche Auswirkungen wird es haben, hin- und hergerissen zwischen Demütigung, Furcht und Stolz aufzuwachsen?
Unter Zwang ausgesiedelt?
In einem Monat werden in Plavecký tvrtok die Bagger anrollen und die Roma-Siedlung abreißen. Jedem Haus wurde bereits der Abrissbescheid zugestellt. Über 600 Menschen werden Ende des Jahres obdachlos sein.
Warum? Die meisten dieser Häuser sind keineswegs baufällig, sie sehen stabil, intakt aus. Ja, meint der Bürgermeister, aber sie seien eine Gefahrenquelle für das ganze Dorf, denn eine Gas-Pipeline des NAFTA-Konzerns verlaufe in unmittelbarer Nähe der Roma-Häuser. Diese hat man 2003 errichtet. Damals legte man keinen Wert auf Sicherheitsabstände. Was der Bürgermeister verschwieg: Die NAFTA plant hier den Ausbau des bestehenden Stützpunkts, direkt auf dem Grundstück der Roma-Siedlung. Sie braucht dazu das angrenzende Bauland. Service-Director dieser NAFTA-Zweigstelle ist Ivan Slezak, der Bürgermeister selbst.
Die Vermutung von Vertreibung oder Zwangsaussiedelung aufgrund von Wirtschaftsinteressen weist der Bürgermeister zurück, davon könne keine Rede sein. Ziel der Verwaltungsbehörde sei es vielmehr, im Sinne der slowakischen Gesetzesreform auch endlich Ordnung im Land zu schaffen, nicht legale Bauten überall zu liquidieren. Aber die betroffenen Häuser stehen hier doch bereits länger als 50 Jahre? Und gehören seit Generationen den gleichen Großfamilien? Werden die Roma nicht als Bürgerinnen, die Rechte haben, gesehen, obwohl sie schon so lange hier leben? Ist es für den Bürgermeister kein Problem, wenn rund ein Drittel der DorfbewohnerInnen mit einem Schlag obdachlos wird? «Nein», sagt er, «so kann man kann das nicht sagen, dass sie obdachlos werden, denn die Leute haben ja eigentlich nie eine Genehmigungen für diese Häuser gehabt.» So absurd sein Satz auch klingen mag die slowakischen Gesetze geben ihm Recht: Es gibt keinen Anspruch auf Ersatz von Unterkunft für jemanden, der vorher in einem nicht genehmigten Haus gelebt hat. Davon betroffen sind in der Slowakei vor allem Roma.
Snobismus der Armen
Die Leute im Dorf sehen sich selbst als «ausgebeutete und deshalb diskriminierte Weiße», sie sind der Meinung, dass «ihr» Geld nicht für Roma ausgegeben werden dürfe, selbst wenn sie seit jeher MitbürgerInnen seien.
Man wirft den unwillkommenen Nachbarn vor, nichts beizutragen zum Gemeindewohlstand; man hält ihnen vor, sie würden auf Kosten anderer, nämlich ihrer, leben und nichts arbeiten wollen. Aber nur wenige Menschen haben hier überhaupt Arbeit, viele sind arbeitslos, ein paar pendeln nach Bratislava, für schlecht bezahlte Jobs. Jede/r, ohne Ausnahme, stellte uns gegenüber die Roma als Diebe dar. Damit versetzen sich alle selbst in die beneidenswerte Position von Leuten, die bestohlen werden könnten. Sartre nannte das den Snobismus der Armen. Die Menschen von Plavecký tvrtok haben den Rassismus zum Mittel gewählt, um sich als «Besitzende» zu realisieren. Sie bezeichnen die Roma als niedrige und schädliche Wesen und betonen genau dadurch, dass sie selbst einer Elite angehören sie sind d i e Slowaken, die echten. Von den Roma, die sich in ihrer Sicht in die Gesellschaft hineingeschlichen haben, verlangen sie, isoliert zu bleiben. Sie dürfen in Plavecký tvrtok weder das Kaffeehaus noch die Kirche betreten und nicht im neu eröffneten Supermarkt einkaufen. Gemeinsamkeit konstruiert sich hier über das Ziel, diffuse repressive Sanktionen gegen bestimmte Individuen, die Roma, zu unter/stützen. Vollkommen fehlendes Unrechtsbewusstsein, was wem passiert und wer oder was für die Verletzung von menschlicher Integrität verantwortlich zu machen ist genau dadurch öffnen auch die DorfbewohnerInnen von Plavecký tvrtok dem Profit Tür und Tor: Es wird also nicht schwer sein für den Bürgermeister, die ökonomischen Interessen und Bodenspekulationen des NAFTA-Konzerns durchzusetzen.
Hinter der Fassade: die Profitgier
In Sulukule, einem Stadtteil von Istanbul, von dem es hieß, es sei die älteste Roma-Siedlung der Welt, ist es bereits geschehen. Die Bilder der Filmemacherin Astrid Heubrandtner, die drei Jahre dort alles mit der Kamera dokumentierte, sind ein Schock: Abrissbirnen und Bagger donnerten im Oktober 2009 in die Häuser der Roma hinein, fegten durch Mauern und rissen gleich alles an Hab und Gut der Menschen darin mit, weil diese nicht weichen wollten. Die Stadtverwaltung hat Platz geschaffen für Privatinvestoren, teure Appartements und Boutiquen. Die Roma lebten hier bis 1995 gut, sie verdienten viel Geld mit ihrer Musik, ihre Lokale waren Arbeitsplätze für die Erwachsenen und Musikschulen für die Kinder in einem. Sie machten Sulukule zu einem berühmten, blühenden Vergnügungsviertel. Aber zunehmender Protest der Anrainer, denen die Lebensweise der Roma ein Dorn im Auge war, und die wirtschaftlichen Interessen der Stadtverwaltung an dem Viertel führten letztendlich dazu, dass die Vergnügungslokale verboten wurden. Man entzog den Roma ihre Einkommensquellen. Trotzdem konnten die Menschen in Sulukule auch mit wenig Mitteln über die Runden kommen und ihre traditionelle Lebensweise bewahren es gab ein Kollektiv, 3500 Menschen an einem Ort, die sich untereinander unterstützten und arrangierten. Nun hat man sie auseinandergerissen und verstreut in irgendwelche Wohnungen, manche 40 Kilometer von Istanbul entfernt, gestopft. Wohnungen, die unseren westlichen Vorstellungen entsprechen, für die Roma als Gemeinschaft jedoch vollkommen untauglich sind. Die Filmemacherin Astrid Heubrandtner begleitete eine Romni in die ihr von der Stadt zugewiesene neue Unterkunft. Die alte Frau wird dort isoliert von ihrer großen Familie leben und ist verzweifelt: «Werden diese Wände mir Brot geben?»
Der «Fall Sulukule» beschäftigte eine Zeitlang sogar das Europaparlament. Im November 2008 trugen die Roma von Sulukule ihr Anliegen in Brüssel vor. Erfolg: null.
Geht uns das an?
Günter Grass forderte unlängst die deutsche Bundesregierung in einem offenen Brief auf, die Repressionen gegen die in Deutschland lebenden Roma zu stoppen. «Es ist höchste Zeit zu handeln, dieses Unrecht wächst von Tag zu Tag.»
Wieso aber fragt er nicht gleichzeitig sich und uns, was denn unsere eigenen Forderungen an alltägliches Handeln wären, als Mit-BürgerInnen der Europäischen Union, als Mitglieder und MacherInnen dieser Gesellschaft, die ohne uns so nicht läuft? Wieso erschöpft sich unser Einsatz meist in der Teilnahme an Demos, in Briefen und Petitionen an Regierungen? Ein in der linken Szene Wiens durchaus prominenter Mann erzählte neulich, er habe einen Übergriff auf zwei Roma-Frauen durch die Kontrolleure in der U-Bahn-Station beobachtet, die die Frauen am Einsteigen in die Bahn gehindert hätten. Ob er sich eingemischt habe? Nein, antwortete er, denn dann hätte er die U-Bahn versäumt, wäre zu spät zur Arbeit gekommen und hätte dort selbst Probleme bekommen. Tja. Zivilgesellschaft wird im Kleinen wie im Großen gestaltet. Von uns als Beteiligte. Der Philosoph Theodor Adorno schrieb dazu: «Das, was wir heute als Gesellschaft produzieren, ist in der Wurzel das, was im Nationalsozialismus die Ermordung von Millionen Menschen ermöglicht hat: Unsere Gesellschaft ist im Grunde nach wie vor zutiefst gleichgültig gegen das, was mit Anderen geschieht. Würde diese Behauptung nicht stimmen, dann wäre es damals nicht möglich gewesen, Millionen Menschen zu verfolgen und zu vernichten, die Leute hätten das dann nicht hingenommen.»