Wohlstand & Meer. Wohlstand & mehr.tun & lassen

Für die allermeisten Menschen begann die Krise nicht 2008

In der Alten Schmiede im Zentrum Wiens startete Mitte Mai die vom Schriftsteller Ilija Trojanow konzipierte Gesprächsreihe mit dem Titel «Weltbefragung». Erster Gesprächspartrner war Christian Felber, Mitbegründer der «Bank für Gemeinwohl»; erstes Thema war der Wohlstand. Mit einigen ungeordneten Gedanken dazu leitete Robert Sommer den Abend ein. Die Gesprächsreihe ist Teil des 20-Jahre-Augustin-Jubiläumsprogramms.

Foto: A. Reisinger

Der Wohlstand ist ausgebrochen. Ich denke, das geschah in den 1960er Jahren. Pasolini war schockiert über die Übernahme der Adriastrände durch die erste Generation der deutschen und österreichischen Italienurlauber. Pasolini erkannte seine Strände nicht wieder.

Aber in Deutschland und Österreich war der Wohlstand ausgebrochen, und sein sichtbarstes Zeichen waren die Volkswagen, die den Brennerpass hinunter rollten, Richtung LIGNANO, mit ausgesprochenem G, wie in Wien bis heute üblich.

Selbst die Linken partizipierten am ausgebrochenen Wohlstand, aber sie kamen mit dem 2CV oder dem Lada. Sie sprachen Linjano politisch korrekt aus und lagen nicht nur in der Sonne, sondern besuchten auch das regionale Volksfest der KPI.

Die meisten Österreicherinnen und Österreicher waren zuvor noch nie am Meer gewesen. Mittlerweile kennen viele Österreicherinnen und Österreicher sogar die Südsee samt dem Kreuz des Südens, 20 Flugstunden entfernt.

Die meisten österreichischen Augustin-Verkäufer_innen sind bis heute noch nie am Meer gewesen. Zu ihnen gelangte der Wohlstand nicht, nachdem er ausgebrochen war.

Hubsi Kramer machte zwei Filme mit Augustin-Verkäufer_innen. Sie heißen Wonderful 1 und Wonderful 2 und haben den gemeinsamen Untertitel: Obdachlose machen Urlaub.

Die vier Laiendarsteller_innen waren dank dem Filmemacher zum ersten Mal in ihrem Leben an der Adria und zum ersten Mal in ihrem Leben in Venedig. Ihr Wohlstand war ausgeborgt. Ihr Wohlstand war gespielt.

Am Markusplatz aßen nicht einfach vier Augustinverkäufer_innen Gelati. Sondern: vier Obdachlose aus Wien spielten Touristen, die am Markusplatz Gelati essen.

Vermutlich werden die Vier nie wieder am Markusplatz Gelati essen, weder in der Rolle als Touristen, noch in ihrer eigenen Rolle.

Es gibt gute Gründe, dass wir das Wort KRISE, verstanden als einen Wohlstandsbruch, der 2008 einsetzte und der vorbereitet wurde von neoliberalistischen Eliten, nicht mehr hören können. Aus der Sicht der nie krisenfrei Lebenden, also der Majorität, ist die Vorstellung, den Wohlstand in Europa zu bewahren, eine gefährliche Drohung.

Für die AugustinverkäuferInnen bedeutet die Zahl 2008 NICHTS (außer vielleicht, dass es ein Jahr war, wo so viele Augustins verkauft wurden wie vorher und nachher nicht). Die Zahl erweckt keine Assoziationen, weil die Augustinverkäufer_innen seit ihrer Kindheit nichts als die Krise kennen. Sie repräsentieren die große Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten, deren Leben in ewiger Krise abläuft. Für sie ist der Wohlstand nie ausgebrochen. Darum kann er nicht bewahrt werden.

Zwei Millionen syrische Flüchtlinge waren, als in Österreich der Wohlstand ausbrach und sie noch keine Flüchtlinge waren, noch nie an einem Meer. Sie werden nie ein Meer sehen, weil ihre Lager in der Wüste errichtet wurden und nicht einmal Oasen haben. Nur ein paar Tausend von ihnen werden die Mittelmeerpassage Libyen-Sizilien kennenlernen.

Von diesen wird jeder zehnte das Meer nicht mehr verlassen. Der Piefke und der Mundl am Strand von Cesenatico sind die frühesten Äußerungsformen des europäischen Wohlstandes. Der Piefke und der Mundl am Strand der Malediven und der vor Lampedusa ertrunkene Flüchtling sind die letzten Äußerungsformen.

Ich komme zur Hauptthese meines Beitrags. Damit der eine am Strand liegen kann, darf der andere den Strand nicht mehr lebend erreichen. So brutal ist das Diemma des Wohlstandes.

Das Utopische ist das Pragmatische

Es gibt nur eine pragmatische Lösung: es ist die utopische. Und sie lautet: Wir arrangieren uns mit dem Heiligen Pier Paolo. Wir begnügen uns mit den ganz nahen Stränden, mit den pasolinischen, und schauen, dass unter den Flüchtlingen ein bisschen Wohlstand ausbricht. Die Lösung sollte sich neutral zum Bruttonationalprodukt verhalten. Das ist bekanntlich ja das Wichtigste.

Also wieder zurück nach Lignano oder Krk, ohne Kerosinverbrauch. Diese Selbstbeschränkung hat einen Kollateralnutzen: Wir schnuppern mediterrane Gelassenheit. Diese bewahren wir in unseren kalten Städten auf, aus denen wir kommen.

Wissen Sie, dass die so genannten Schwabinger Krawallle, die Generalprobe für 1968, von der ersten Generation der bayrischen Italientouristen angezettelt wurde? Sie hatte fasziniert das unregulierte Treiben in öffentlichen Räumen, den Alltag im Modus der Piazza und der Siesta kennen gelernt und nahm plötzlich Anstoß an den Zwängen und Verordnungen, die das Straßenleben in München (nicht unähnlich jenem von Wien) prägten. Das ließen sich die mediterran Infizierten nicht länger gefallen.

Zur Rettung des Begriffs Wohlstand schlagen wir eine neue Definition vor. Wohlstand soll nicht mehr im Sinne von Vermögen, Besitz, Reichtum verwendet werden. Wohlstand möge ein Zustand sein, wo man einen guten Stand hat, auch wenn man unzugehörig ist, oder wo man ohne Angst anders sein kann. Zum Beispiel mediterran müßig unter den Strebsäuen. Oder asylsuchend und somalisch unterm Bierzeltdach. Oder Augustinredakteur unter Geistesmenschen. Oder anarchistisch unter Unbescholtenen.

So ein Wohlstand für alle ließe sich leicht schaffen. Man muss nur den Kapitalismus abbauen. Leider muss man das unter lauter Leuten tun, die sich leichter das Ende der Welt vorstellen können als das Ende des Kapitalismus.

Am 28. Mai ist Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister zu Gast bei Trojanow. Der Augustin wird eine Zusammenfassung der Gespräche veröffentlichen.

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