Zeit für Nostalgievorstadt

Der Alfred-Kubin-Platz ist das Zentrum der Gemeindebausiedlung (Foto: © Heinz S. Tesarek)

Ein Spaziergang von der Sportanlage des SC Elite zum Alfred-Kubin-Platz verbindet mit Floridsdorf und der Donaustadt nicht nur zwei Bezirke, sondern erzählt auch jede Menge Geschichten – mit viel Schwein, der Tixo-Grube und natürlich Fußball.

Eigentlich markiert die Eipeldauer Straße einen Flurnamen, den es heute nicht mehr gibt. Denn die heutige Katastralgemeinde Leopoldau hieß früher Eipeldau. Der Sohn von Ferdinand III. war eine Frühgeburt und musste wochenlang in stündlich frischgeschlachteten Schweinen am Leben erhalten werden. Brutkasten anno 1640. Als dieser Leopold I. den Thron bestieg, ließ er die Eipeldau nach sich benennen, weil aus diesem Gebiet die meisten Schweine zu seiner Errettung stammten. Die Eipeldauer:innen nahmen diese zweifelhafte Ehre nur sehr langsam an. Es dauerte über hundert Jahre, bis sich der neue Name durchsetzte.

Die andere Seite

Die Eipeldauer Straße ist die die Grenze zwischen dem 21. und dem 22. Bezirk. Auf der Donaustädter Seite erhebt sich der 1976 errichtete Josef-Bohmann-Hof, eine beeindruckende Anlage mit 88 Stiegen, drei Garagenbauten und zwei Schulen. Die allesamt nach bildenden Künstlern wie Kurt Ohnsorg oder Herbert Boeckl benannten Wege führen von der Eipeldauer Straße zum Alfred-Kubin-Platz. Sie zeugen von den Ambitionen, die Gemeindewohnungen zu einem Prestigebau zu machen. Mitarbeiter:innen der nicht weit entfernten UNO hätten hier einziehen sollen. Für manche wirkte es eher wie eine Dystopie aus Alfred Kubins Tuschezeichnungen. Ein Mittvierziger erinnert sich, dass er als Jugendlicher diese Gegend mied: «Hier erwartet dich Gewalt», habe man ihm gesagt. Ich frage einen heutigen Bewohner, was damit wohl gemeint war. «Dass du mit Aua heimgegangen bist.» Und warum? «G’stritt’n mit den anderen halt.»

Die Welt durch’s Bullauge

Neben den als Enzos bekannten Sitzgelegenheiten und vielen offiziellen und weniger offiziellen Graffitis finden sich am Alfred-Kubin-Platz als Mittelpunkt der tortenförmigen Siedlung ein geschlossen wirkendes Beisel, eine Apotheke, ein Penny Markt, ein Pizza-Takeaway, eine Kindergruppe und ein Friseur. Früher habe es auch einen Bäcker und einen Fleischer gegeben, der Diskonter sei ein Greissler gewesen, erzählen Bewohner:innen. Wenige Meter weiter ist das Café Nostalgie, das aufgrund seiner markanten Fenster einmal «Bullauge» und «Popeye» hieß und zu besseren Zeiten einen Restaurantbetrieb hatte. Hier sitzen Karl, Fidi, Branko und Michael am Stammtisch und tarockieren. Gegen acht Uhr hätten sie schon begonnen. «Viermal selbstständig, dreimal bankrott, einmal Betrug» stellt sich Branko vor. Er habe früher am Kubin-Platz gewohnt. Heute komme er nur mehr jeden Sonntag zum Kartenspielen her. Für Branko hat sich hier vieles verändert. Der Bohmann-Hof wäre als Integrationsbau errichtet worden. Heute gehe ein Österreicher und ein Ausländer komme. Aber vielleicht schreibe das der Augustin ja nicht, der sei ja ein Integrationsblatt. Früher war alles besser, sind sich die Gäste einig. Nostalgie eben.
Als seine Eltern 1976 mit ihm und seinem Bruder in den Gemeindebau gezogen sind, waren sie erst die zweite Partei auf der 59er-Stiege. Ein weiterer Karl, der an der Bar sitzt, ist ein Urgestein des Kubin-Platzes. Er wohnt noch heute im Josef-Bohmann-Hof und kommt jeden Tag ins Café. Als er 15, 16 Jahre alt war, hätten die Nachbar:innen einmal die Polizei gerufen, weil sie meinten, er würde mit seinen Kumpels in den Kindergarten einbrechen. «Da haben die 8er geklickt», schmunzelt er darüber. Für die heutige Jugend hat er wenig Verständnis. Er zeigt mir ein mit Drogenfantasien komplett beschmiertes Stockwerk. Karl ist Bestatter von Beruf. Aus dem Gemeindebau habe er schon vier Leute abgeholt. Auch zwei Freunde habe er schon begraben, erzählt er nachdenklich.

Der Bürgermeister von Stadlau

Jeden Mittwoch und Sonntag hilft Walter im Café Nostalgie aus. Er sei hier nur geduldet, witzeln die anderen. «Aber in Stadlau bin ich der Bürgermeister, da entscheide ich, wer einzieht», entgegnet er. Früher habe er das Café Sorbonne in der Garnisongasse betrieben, wo einige illustre Gäste ein und aus gegangen seien. Aber es seien ihm zu viele Leute weggestorben, sagt er, und macht klar, dass für ihn ein Gast mehr als ein Kunde ist. Mit dem in unmittelbarer Nähe spielenden SC Elite weiß hier niemand etwas anzufangen, außer dass es dort in der Kantine einmal gute Fleischlaberl gab. Die Ganslwiese ist aber noch jedem geläufig. Wo heute der Sportplatz ist, gab viele Gänse – und das Ganslreiten. Dazu wurde eine tote Gans an den Füßen aufgehängt, ihr Hals gerupft und eingefettet. Zu Pferd musste die Gans runtergerissen werden. Wem das gelang, der war der Ganslkönig, wurde mit einem Korso samt Musik durch das Grätzel hofiert und durfte das Tier behalten.

Der Tiefbauer und die Schottergruben

Ferdinand Lesmeister, seit 2009 SPÖ-Bezirksrat und Direktor des Bezirksmuseums Floridsdorf, ist in der Gegend aufgewachsen. In einem festungsartigen Gemeindebau aus den Jahren 1929 – 1930 war seine Volksschule. Noch in der Nachkriegszeit war es eines der wenigen großen Gebäude weit und breit. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg wurde hier Schotter für die bauhungrige Stadt abgebaut. Danach fanden die Gruben als Deponien Verwendung. «Was sie in den 60er-Jahren reingehaut haben, haben sie in den 70er-Jahren wieder ausgegraben», erinnert sich der 1950er-Jahrgang, für den die «Tixo-Grube» sein Spielplatz war. 1964 begann Ferdinand Lesmeister eine HTL für Tiefbau und wurde wenig später Spieler des hiesigen Fußballvereins. «Vorwärts XXI war der Leopoldauer Verein», schwärmt er bis heute und blättert in seinem Buch über den Club. «Das war mein bestes Spiel. Vienna-Vorwärts. 1:1», zeigt er auf ein Foto. Das 300 Seiten starke Werk dokumentiert reich bebildert Saison für Saison. Neben der Geschichte des Vereins erzählt es auch vom vielseitigen Sozialleben, von Krampus- und Leopoldi-Feiern. 1921 wurde der Verein gegründet, von 1934 bis 1945 musste er auf den Zusatz «Arbeitersportverein» verzichten und 1973 wurde er mit Union Landhaus fusioniert, ein Tod auf Raten.

In Stein gemeißelt

Der Vereinsplatz von Vorwärts XXI war auf der Ganslwiese, Ferdinand Lesmeister wollte diesen Jahrzehnten Fußballgeschichte ein sprichwörtliches Denkmal setzen. So wurde im Herbst 2007 zwischen der Josef-Baumann-Gasse und dem Satzingerweg der Vorwärts-Platz eingeweiht, an dem alljährliche Gedenkveranstaltungen mit prominenten Fußballspielern stattfinden. Wenig später kam dann eine Skulptur dazu, die in China gefertigt wurde und für die Ferdinand Lesmeister in Form eines Fotos aus dem Jahr 1971 Modell stand. «Die Leut’ hab’n g’sagt, i bin da chinesische Ferl!», scherzt er über die Provenienz der außergewöhnlichen Statue, die zwei Spieler im Zweikampf zeigt. In der Neujahrsnacht 2007/2008 wurde das Denkmal durch einen Silvesterkracher beschädigt. Die Finger vom Ferl habe er seitdem zuhause in der Schublade. Heute ist das Denkmal deshalb mit einem Gitter und Berberitzen geschützt. «Meine Wenigkeit aus Granit auf dem Sockel», sagt Ferdinand Lesmeister nicht ohne Stolz.