Augustin 293 - 03/2011
Wohin mit der Würde des Bettlerstandes?
«Es drängen sich neuerdings Gestalten an die Oberfläche der Verarmung, gegen die rechtzeitig und mit allem Nachdruck protestiert werden muss. Der Schreiber dieser Zeilen, seit über dreißig Jahren am Wiener Platz als Schnorrer tätig und in dieser Branche durch rastlose Mühe und ein wohlfundiertes Kapital an Geldbedürfnis groß geworden, sieht sich plötzlich mit einer Sorte neuer Armer in einer Gesellschaft vereint, die durch nichts zu ihrer Rolle legitimiert erscheinen. Wie kommen wir, solide Vorkriegsschnorrer, für die der Besitzmangel stets mehr war als ein zufälliges und vorübergehendes Kein-Geld-Haben und die wir unsere Weltanschauung buchstäblich am Mund der Reichen absparen mussten, dazu, Leute sich an uns herandrängen und unserem Los zugesellt sehen zu müssen, deren Armut erst von gestern ist? Wohin soll es mit der Kultur des Schnorrertums, mit der Sittlichkeit und Würde des Bettlerstandes kommen, wenn der Zufall einer Wirtschaftskrise, einer Börsenbaisse usw. jedem dahergelaufenen Milliardär gestatten kann, sich plötzlich als Bettler aufzuspielen?»
Nicht alles, was Anton Kuh, der große Wiener Bohemien, vor 80 Jahren schrieb, klingt uns Heutigen so überholt wie dieser Protest gegen die drohende Verwässerung des althergebrachten Lumpenproletariats aus der Perspektive des klassischen Schnorrers, dem sozialen Kern dieser Lumpenschicht. Die Orte des Schnorrens sind gleich geblieben, aber der subtile Rassismus der Sprache nennt den typischen Bettler von heute nicht mehr Schnorrer, weil in ihm, siehe Kuh, zu viel Sympathie für den der Wiener Folklore unentbehrlichen, gemütlichen Tschecheranten abgelagert ist. Für die «Standard»-BettlerInnen von heute, Roma aus den von der Wirtschaft abgehängten Armensiedlungen Osteruropas, sind Begriffe angebracht, die ihrer Sündenbockfunktion gerecht werden und sich gegen jede positive Bedeutungsnuance sperren, Begriffe wie Bettelmafia …
Antiquiert (weil schon damals übertrieben gezeichnet) ist weiters das Bild vom Milliardär, der in der Wirtschaftskrise zum Konkurrenten der Straße wird. Die Geldelite hat sich, mithilfe großzügiger Regierungen, deklassierungs- und kriminalisierungsresistent gemacht. Die Reichen, von den Parlamenten vor dem Pleitegehen bewahrt, werden mit höheren Boni statt mit Ausschluss aus dem Klub «sanktioniert».
In Angelegenheiten des Bettelns müsste sich ein moderner Anton Kuh gewaltig anstrengen, um in seiner satirischen Literatur nicht vor der Welle der institutionellen Realsatire überrollt zu werden. Der Stadtpolizeikommandant Kurt Kemeter (Seite 7) mit seiner «rein arbeitsökonomischen» Begründung des Bettelverbots gibt da einiges vor. Realsatirisch gibt auch das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung einiges her, freilich auf Kosten von vier Studierenden, die eine Abschiebeaktion filmten und deswegen nicht einen Orden für Zivilcourage kriegten, sondern unter Terrorismusverdacht gerieten (Seite 8). Plötzlich ahne ich, warum mich die Wiener Kabarettisten-Szene anödet. Weil mir die unfreiwillige Real-Parodie ausreicht, die der Staat und seine DienerInnen liefern.