Augustin 410 - 03/2016

Herausforderungen zu Frühlingsbeginn

Kürzlich habe ich meine Großmutter besucht. Eine feine Frau, die in einem minikleinen Haus in einer Stadt am ungarischen Donauabschnitt lebt. Für mich war sie immer eine Lady mit viel Stil, die hervorragendes Quittenkonfekt macht, sich adrett kleidet und die besten Manieren der Welt hat. Jetzt ist sie 89 und beginnt mit Demenz. 

Sie erinnert andere Dinge als wir, die Leute um sie herum, – etwa dass sie quer durch Europa Immobilien besitzt oder dass ihr Arzt den Namen ihres mittleren Sohnes hat. Dinge, nach denen wir sie hingegen fragen (Kannst du mir das Mohnstrudelrezept ansagen?) nimmt sie mit Erstaunen zur Kenntnis (Du erinnerst dich falsch, ich habe in meinem ganzen Leben nie Mohnstrudel gebacken). Ihre Kinder schließen die Augen und atmen tief durch vor Ungeduld, wenn sie schwört, sie hätte den Installateur schon angerufen (wie als Beweis zeigt sie auf die Fernbedienung des Fernsehers – man möge das Telefon jetzt weglegen); er käme morgen um sieben Uhr und Schluss. Als Enkelkind hat man es leichter, es leicht zu nehmen und zu sagen: Ich stell mir den Wecker für sieben, und dann, wenn er nicht kommt: Er hat wohl vergessen. Sie ist überhaupt nicht mehr sie!, ärgert sich der Sohn, der seine andere Mutter zurückwill. Dabei ist sie sehr stark sie. Eine feine, freundliche Person mit einer sehr spezifischen Art, immer ein bisschen zu besorgt zu sein – nur eben neuerdings über ganz andere Dinge. «Nimmt Demenz einem Menschen die Persönlichkeit?», fragt Martin Schenk in seiner Kolumne auf Seite 3. Seine Antwort ist ein klares Nein. Demenz fordert eher die Persönlichkeit des (noch) nicht dementen Gegenübers heraus.

Herausfordernd für alle, dement oder nicht, ist die österreichische Innen- und Außenpolitik. Ihr Duktus ist autoritär. Sie erhebt Mangel an Mitgefühl und Entsolidarisierung zur Staatsraison. Sie erinnert an Zeiten, an die man gar nicht erinnert werden möchte. Die Balkanroute, die Flüchtlinge sich erkämpft haben, wurde erst mit Stacheldraht und Polizeieinsätzen und jetzt mit europäischen Direktiven geschlossen. Die Menschen, die trotzdem weiterkommen wollen, um ihr Leben zu sichern, waten durch eiskalte Flüsse, zelten mit ihren kleinen, hungrigen Kiddies im Gatsch, mitten in der seligen Festung Europa. Außenminister Kurz findet, man kann ruhig ein paar hässliche Bilder in Kauf nehmen, wenn man dafür weiterhin fein abgeschottet eine ruhige Kugel schieben darf. «Nach solchen Nachrichten ist es einem nicht nach Melange oder Kipfel», möchte man mit Herrn Hüseyin (S. 34) sagen, der, genau wie die Redaktion, «sehr gerne über das frische Gras, die Blumen und das Aufwachen der Insekten» schreiben würde – aber die Ereignisse erlauben es nicht so recht. Stattdessen machen wir uns also auf, widerständige Praxen aus aller Welt zu versammeln: Für Christine Schörkhuber aka Canned Fit (S. 27) sind Europas Außengrenzen Quell des Unmuts, dem sie im wahrsten Sinne des Wortes mit Dosenmusik entgegentritt. In einem kleinen Dorf in Südtirol (S. 6) wollte man sich nicht mehr damit abfinden, in Wolken von Pestiziden aus dem Apfelanbau getunkt zu werden, und hat sich kurzerhand zur ersten pestizidfreien Gemeinde Europas erklärt. Im Lissaboner Hafen (S. 8) rotten sich die Docker zusammen, um Streikwarnungen zu signalisieren. Wer hingegen die Werbungsverschmutzung der Innenstädte qua Flimmerboards auf den Komposthaufen der Geschichte befördern möchte, kann sich bei den Autor_innen der «Wiener Wirtschaft» (S. 11) melden; aber besser als in den der Langweile und dem Tourismus verschriebenen Zentren schmeckt das Bier ohnehin an den Rändern der Stadt – lassen Sie sich das ab Seite 16 versichern.

Intuitiv für Wien

Dasha Zaichanka

Es ist interessant, das Cover der Strawanzerin zu machen, denn es gibt thematisch keine Begrenzung. Aber ich habe mich schon auf die Stadt fokussiert; es wäre ja interessant, verschiedene Seiten des städtischen Lebens zu zeigen. Normalerweise fah… weiterlesen

Das Wunder von Mals

Eine Südtiroler Gemeinde macht ihre eigene Agrar- und Gesundheitspolitik

Bis vor einem Jahr war Mals ein relativ unbekanntes Dorf. Das hat sich in der Zwischenzeit grundlegend geändert: Der kleine Ort im Oberen Vinschgau erscheint jetzt grellrot auf dem Radar von Konzernen wie Monsanto oder BASF. Werner Kräutler (Text… weiterlesen

Streikwarnung im Hafen

Die Lissaboner Docker feilschen um ihre Arbeitsrechte

Ein Frachtschiff mit Containern unterschiedlicher Farben an Bord, über- und ineinander verschachtelt wie ein Tetris-Spiel, nähert sich dem Lissaboner Hafen. Sehr nah ist es dem Kai, ganz wie das Sozialabkommen zwischen Gewerkschaft, Regierung und… weiterlesen

Konsumverführung auf Sozialdemokratisch

Wie die Gewista den öffentlichen Raum einnimmt und die Grünen nichts mehr dagegen haben

Die Freude war groß: Keine Autos mehr auf der Mariahilfer Straße! Jetzt wird sie getrübt: 27 leuchtende Screens der Gewista belästigen die Fußgeher_innen – obwohl bekannt ist, dass aufdringliche Bombardierung mit Konsumbotschaften das Leben der M… weiterlesen

«Das Schreiben war körperliche Schwerstarbeit»

Ingrid Strobl im Gespräch

Die Journalistin Ingrid Strobl saß jahrelang wegen Verdacht auf Terrorismus in Untersuchungshaft. Im Gefängnis schrieb sie ein Buch über den bewaffneten Widerstand von Frauen gegen Faschismus und deutsche Besatzung. Nach drei Jahren wurde Strobl f… weiterlesen

eingSCHENKt: Demenz – Immer noch ich

«Mein Name ist Helga Rohra. Ich bin ein Mensch, der an Demenz erkrankt ist. I belong to you.» So stellt sich Helga Rohra vor, sie war 54 Jahre alt, als sie die Diagnose Demenz erhielt. Nimmt Demenz einem Menschen die Persönlichkeit? Die Antwort v… weiterlesen

Ein Sonntag im Plattenbaugebiet

60 km von Wien entfernt: eine fremde Welt

42.000 Plattenbauwohnungen auf 472 ha Fläche: das ist Petržalka, die Trabantenstadt von Bratislava. Nur selten verirren sich ausländische Besucher_innen hierhin, so etwa Wenzel Müller (Text und Fotos).  

Monoton und steril. So wirk… weiterlesen

Hupf in Gatsch. Alles Zone hier?

Gaudenzdorf: der Ausgangspunkt von Georg Danzer

Gaudenzdorfer Gürtel 47: Georg Danzer, dessen theoretischer «Siebziger» heuer noch vielerorts ein Thema sein wird, wuchs hier auf. Seinem Elternhaus widmete er zwei Jahre vor seinem frühen Tod ein Lied. Auch seine Herkunft Gaudenzdorf soll an die… weiterlesen

Die Kollektion der gebrochenen Herzen

Eine kleine Augustin-Museologie, Teil 8: Das Museum of Broken Relationships in Zagreb

Im Zentrum von Zagreb steht das Museum der zerbrochenen Beziehungen. Klingt kitschig? Ist es aber nicht. Lisa Bolyos (Text und Fotos) ist südwärts gefahren, um sich die Relikte vergangener Liebesgeschichten aus der Nähe anzuschauen und dem Museum… weiterlesen

«Eine Chance»

Lokalmatador Nr. 361:

Josef Cser hat im Gemeindebau ebenso wie im Boxring vor allem eines im Auge – die Fairness. Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto)

In die Goschn hauen! Selbstverständlich kennt er diesen uralten Wiener Kraftausdruck. Immerhin ist er in P… weiterlesen

Alois Koch got the Blues

Im Gespräch mit Al Cook, 71, Bluesmusiker mit «Goldenem Verdienstzeichen» der Republik

Al Cook, Jahrgang 1945, gilt als der verdienstvollste Bluesmusiker des Landes. Anlässlich seines 71. Geburtstags feierte Al Cook kürzlich seinen «Great Birthday Jamboree» (mit Konzert und Live-Band) und verabredete sich einige Tage später mit Al … weiterlesen

Theater spontan

Festival: improvisierte Bühnenarbeit mit improvisiertem Budget

Was haben HipHop, Jazz und MacGyver gemeinsam? Alle drei verwenden die Technik des Improvisierens, um zu verblüffenden Ergebnissen zu gelangen. Auch das Improtheater lebt von der Spontanität der Schauspieler_innen und den Impulsen der Zuschauer_in… weiterlesen

Das waren Mods!

Musikarbeiter unterwegs … in Sachen Subkulturgeschichte

Ein optimistisch vorwärtsschauender Rückblick auf eine real existierende Jugendbewegung und deren allerbeste Musik.

Foto: Mods & Punx united!

«Was ich The Exploited nie verzeihe, ist ‹Fuck the Mods!›», sagt Thomas Tesar. Tesar, 1973… weiterlesen

Acht Särge lagern in Stein

Gedanken eines Langzeithäftlings über «lebenslänglich»

Für ein Medium wie den Augustin, das der Gefängnisstrafe sowohl die Fähigkeit zur Verbrechensprävention als auch die zur «Resozialisierung» abspricht, ist naturgemäß die lebenslange Haft doppelt sinnlos. Studien belegen ganz klar, dass «lebenslän… weiterlesen

Die Freuden des Nichtwissens

Herr Groll auf Reisen. 277. Folge

Groll hatte den Dozenten in den ersten Bezirk gebeten. Der traf pünktlich mit seiner italienischen Rennmaschine ein.

«Guten Tag, geschätzter Groll, was wollen Sie mir zeigen? Die Rückseite des Palais Batthyány? In diesem Häuserkomplex befindet … weiterlesen

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