Augustin 413 - 05/2016

«Character building» auf Sozialdemokratisch

Ob wir, die Augustin-Macher_innen, der sich in Auflösung begriffenen Sozialdemokratie k e i n e Träne nachweinen? Da müsste ich meine Kolleg_innen fragen. Was mich betrifft: Als politisch Schwankender pendle ich zwischen der Genugtuung, dass eine Partei vom Wahlvolk abgestraft wird, die ihr eigenes Profil völlig preisgibt, und der beklemmenden Ahnung, dass der politische Nutznießer dieser sozialistischen Selbstzerstörungsprozesse erst am Anfang seiner Bemühungen steht, die Flüchtlinge zu den neuen Sündenböcken zu machen. Die menschliche Geschichte ist eine Geschichte

von Katastrophen, die dadurch entstehen, dass frustrierte Menschen ihre Aggressionen nicht gegen die Verursacher_innen der Frustration richten, sondern gegen die Sündenböcke.Natürlich schmunzle ich, wenn mein Freund Erwin Riess in seiner

Rubrik «Herr Groll auf Reisen» (Seite 38) Kübel voll Spott und Hohn

auf den gescheiterten SP-Bundespräsidentschaftskandidaten schüttet.

Wussten Sie, dass Rudolf Hundstorfer von 1504 Wiener Wahlsprengeln

ganze drei gewonnen hat, fragt Groll den Dozenten. Und dass es sich

bei den dreien um Sprengel handelt, in denen sich große Pensionist_

innenheime mit hunderten Bewohner_innen befinden? Der Befragte

belehrt Groll, dass man im Englischen in Fällen schwerer Niederlagen

sage, das Erlebnis diene dem «character building». So gesehen

müsse der Kanzler einen großartigen Charakter haben, grinst Groll.

Gezählte 18 Wahlkampfniederlagen müssten demnach Faymann zu

einem souveränen Politiker gemacht haben!

Dass die Götterdämmerung der Sozialdemokratie in Europa nicht

aufzuhalten ist, macht mich in der Tat nicht schlaflos. Bundeskanzler

Faymanns einziger Trost ist, dass viele sozialdemokratische Parteien

in Auflösung begriffen sind. Beispiel Frankreich: Für die regierenden

Sozialist_innen und ihren Präsidenten, den nach neuen Umfragen acht

von zehn Franzosen und Französinnen als Bewerber für eine zweite

Amtszeit ablehnen und nur noch sechs Prozent als Wunschkandidaten

sehen, können die Proteste der «Nuit debout»-Bewegung (Seite 6) in

dem Moment brandgefährlich werden, in dem sie sich auf die Vorstädte

ausdehnen, wo nordafrikanische Migrant_innen ein Leben führen,

das immer weniger ihrem einstigen Traum von Europa entspricht.

Es ist nicht egal, ob dieser existenzgefährdende Druck auf die SP von

rechts aufgebaut wird, wie in Österreich, oder von links, wie in Frankreich.

Kommt er von der Linken (in Frankreich verkörpert durch die

neue Platzbesetzungs-Bewegung, die traditionellen Gewerkschaften

und die «Dissident_innen» innerhalb der Sozialdemokratie), wird sich

die Erkenntnis durchsetzen, dass es nicht Aufgabe einer sozialistischen

Regierung sein kann, Entlassungen zu erleichtern oder die Wochenarbeitszeit

faktisch den Arbeitgeber_innen zu überlassen (um zwei Punkte

der «Reform» zu nennen, die zur gegenwärtigen Rebellion geführt

hat). Weil der Druck in Österreich aber von rechts kommt, könnte die

französische «Arbeitsrechtsreform» ein Klacks sein im Vergleich zu

dem, was an Klassenkampf von oben auf uns zukommt.

Oder was an «Kulturkampf» auf uns zukriecht. Der FPÖ-Bürgermeister

von Wels in Oberösterreich, der Europa am deutschen Wesen

genesen zu sehen glaubt, verlangt von den migrantischen Volksschuleinsteiger_

innen, was ein Großteil der FP-Mitglieder nicht schafft:

fünf deutsche Lieder zu singen und fünf deutsche Gedichte auswendig

aufzusagen. Nachzulesen im Bericht über den Künstler Friedemann

Derschmidt, der den Nationalsozialismus in seiner Großfamilie

untersucht (Seite 24). Gegen diese Zukunftsszenarien will ich mich

doppelt absichern: durch das Kreuz für VdB am 22. Mai und mit fünf

Liedern der Tschuschenkapelle auf den Lippen.

eingSCHENKt: Größenwahn & Opferkult

Was passiert, wenn nationalistische und autoritäre Politiken an die Macht kommen, kann in Ungarn oder in Polen gerade live beobachtet werden. Viktor Orbán betreibt einen sichtbaren Kampf gegen das europäische «Ausland», gegen bedrohliche «innere Fein… weiterlesen

Wenn Steine weinen (Teil 2)

Eines Tages, als Großvater seine Pension bekam und wir in die Stadt fuhren, um bei der Ruža Čevapčići zu essen, sah ich in der Auslage dunkelrote Cowboystiefel, die so viel kosteten wie seine ganze Monatspension. Er kaufte sie mir, und wir hatten den… weiterlesen

Harriet Tubman & Sojourner Truth

Mit der Wahrheit der Sklav_innen-Dollars

Ich beginne diesen Artikel mit der Suche nach Geschichten von und über die beiden Frauenrechtlerinnen und politischen Aktivistinnen Tubman und Truth. Als Erstes treffen mich ihre Gesichter und ihr Ausdruck auf alten Fotos im Internet, die so viel erz… weiterlesen

Gottfrieds Tagebuch

Die Wahl, Blabla-Sendungen und Ausbildung in der Politik

13.4.
Manchmal scheint es zielführender zu sein, wenn das
Stammhirn auf Werkseinstellung arbeitet. Das erleichtert
das Verkraften von täglich darauf einwirkenden
Umwelteinflüssen verschiedenster Art.

Grafik: Carla Müller

Wie mir von einem K… weiterlesen

Doppelball: Lungenbrötchen in der Kantine

Do bin i dahoam, verkündet der stolze Bajuware gerne, wenn ihm eine Kamera vor die Nase gehalten wird. Dasselbe können wir Ballesterer von Schwarz-Weiß Augustin behaupten, die nach ihren Wanderjahren nun schon seit zwölf Jahren zwei Drittel der Fußba… weiterlesen

Wie Winnetou

Augustinverkäufer Tibor

Mich kennt jeder als Tibor. Meine Freundin sagt zu mir Tibi. Am Siebenbrunnenplatz gibt es eine Taube, die ist braun, als einzige, alle anderen sind grau, schwarz, weiß, und Leo, auch ein Augustin-Verkäufer, sagt: Das ist Tibi.

Foto: Alexander Fortu… weiterlesen

Euch die Macht? Uns die Nacht!

Der Aufstand gegen ein neues, «geschmeidigeres« Arbeitsrecht

Vielleicht ist es naiv, von Volkswirtschafter_innen und Wirtschaftsjournalist_innen zu verlangen, Partei für die benachteiligten sozialen Gruppen zu ergreifen. Eine gewisse Neutralität darf man sich von ihnen schon erwarten? Österreichs Wirtschaftsre… weiterlesen

Sie sind verliebt? Können Sie sich das überhaupt leisten?

Wie binationale Ehen verhindert werden – und warum

Liebe durchbricht Grenzen! Aber was, wenn der Staat die Grenzen immer höher zieht? Lisa Bolyos hat nachgefragt, was man am besten tut, wenn man von binationaler Verliebtheit betroffen ist.

Foto: Ehe ohne Grenzen

Georg Schwanninger* hat sich verl… weiterlesen

Ein Lord mit vielen Rätseln

Norbert Gaggl, Augustin-Urgestein – fit und elegant bis zum Tod

Zuerst die tragische Nachricht: «Sir» Norbert Gaggl, Urgestein unter den Augustin-Verkäufer_innen, hat Mitte April seinen «Kampf» gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs und Leberzirrhose verloren. Die gute Nachricht: Der «Kampf» dauerte eigentlich nur zwei T… weiterlesen

Vagabunden, frei wie Hunde

Werner Steinermann, Augustiner, starb am 11. April

In der letzten Hälfte der neunziger Jahre, also in der Kinderzeit des Augustin, existierte in Wien ein Häufchen literarisierender Clochards, die es vorher nicht gab und die es in Zukunft vielleicht nie wieder geben wird. Sie hießen Hömal, Luvi, Straw… weiterlesen

Verwurzelung gegen krankhafte Stadterweiterung

Wer klaute den Rothneusiedl-Einwohner_innen ihre Gemüse-Felder?

Mitten in der «Pampa», in einer brachliegenden Ebene mit beinahe null Infrastruktur, schwer zu erreichen, gab es einen landwirtschaftlichen Betrieb, in dem Anrainer_innen ihr eigenes Gemüse ziehen konnten. Kerstin Kellermann (Text) und Lisbeth Kovači… weiterlesen

Abenteurer, Ethnograph, Pferdenarr

Werner Finke (1942–2002) arbeitete wenig am Schreibtisch

Werner Finke war ein österreichischer Ethnologe, der über drei Jahrzehnte in der Türkei geforscht hat. Er war ein «Praktiker», ein Vertreter der angewandten Ethnologie und vor allem interessiert an materieller und visueller Kultur. Er hat für das Mus… weiterlesen

«Die Kinder werden’s scho’ regeln»

Helmut Köglberger, Nachkriegskind und Shooting Star

Helmut Köglberger ist als Nachkriegskind in Oberösterreich aufgewachsen. Über die Vormundschaft des Jugendamts, eine Kindheit am Land und eine steile Karriere als Fußballer hat er mit Lisa Bolyos und Hannes Gaisberger gesprochen – und dabei viel Zuve… weiterlesen

Eine Horde Irrer? Von wegen …

Die gnadenlose Selbstprüfung einer Großfamilie

Gesunde deutsche Frauen und Männer, die bewusst eine Kinderlosigkeit wählten, begingen einen «Rassenselbstmord». Sie müssen also sanktioniert werden. Der_die richtige Deutsche ziehe «im Eigenheim eine richtige Kinderschar auf». Was tun, wenn man auf … weiterlesen

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