Zuhause auf Zeittun & lassen

Frühlingsbeginn und Wohnungslosigkeit

Der 30. April ist Stichtag. Dann endet das Winterpaket für Wohnungslose. Zusätzliche Wärmestuben und Notquartiere werden wieder geschlossen. Markus Schauta hat nachgefragt, wo EU-Bürger_innen in Wien ihre Winternächte verbringen und was sie tun, wenn der Frühling kommt. Klaus Pichler hat eine Notschlafstelle der Caritas mit der Kamera erkundet.

Sechs Monate im Jahr geht es. Bei gutem Wetter auch länger. Dann schläft Marius in den Parks von Wien oder in öffentlichen WC-Anlagen. Doch im Winter, bei Schnee, Eis und Minustemperaturen kann das lebensgefährlich sein. Marius sucht dann jene Notschlafstellen auf, in denen EU-Bürger_innen, oder präziser: nicht-anspruchsberechtigte Wohnungslose, willkommen sind.

Vom Priesterseminar in die Obdach­losigkeit.

Die sogenannte Zweite Gruft der Caritas ist Tageszentrum und Notquartier; ein Haus im 18. Bezirk, ruhige Lage, wenig Verkehr. Mit der Straßenbahn gut erreichbar. Zwischen 8 und 15 Uhr steht das Tageszentrum allen Volljährigen offen, die sich aufwärmen, etwas essen, Duschen und WC-Anlagen benutzen oder ihre Sachen in einem Spind hinterlegen möchten. Zwischen hundert und hundertdreißig Leute kommen täglich hierher. An kalten Tagen mehr. Einer von ihnen ist Marius.
Bei der Ausgabestelle der Großküche im Keller kann Marius sich ein Mittagessen abholen. Heute gibt es Hühnereintopf, Salat und als Nachtisch ein Stück Kuchen. Die Menschen sitzen an langen Tischen, manche stumm für sich alleine, andere unterhalten sich. Manchen sieht man das Leben auf der Straße an, am Gesicht, an den Zähnen. Andere würde man nicht als Obdachlose wahrnehmen.
Marius kommt aus Polen. Wenn er spricht, tut er das leise und bedächtig. Nach einer Lehre als Mechaniker entschloss er sich für den Weg des Priesters: fünf Jahre evangelisches Priesterseminar in Warschau, zwei Jahre als Pastor. Der Alkohol ist ein treuer Begleiter und irgendwann sein König. Vor 13 Jahren hängt der heute 49-Jährige den Talar an den Nagel und beschließt nach Wien zu ziehen. Er sucht und findet Arbeit. Schwarzarbeit. Am Ende des ersten Monats erhält er nur einen kleinen Teil des vereinbarten Lohnes. Nach dem zweiten Monat sagt der Chef, er sei pleite. Marius geht leer aus. Auch die vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellte Wohnung muss er räumen. Er sucht neue Arbeit, findet keine. Und landet auf der Straße.
Zurück in seine Heimat kann er nicht: «Ich habe in Polen eine Schwester, die ist aber selbst arm, und ich will ihr nicht zur Last fallen.» Es sei gut, dass es Tagesstätten gibt, so Marius. «Morgens bekomme ich Frühstück, es ist warm, ich kann mich umziehen und waschen.» Die Zukunft ist ungewiss: Bis Ende April hat er einen Schlafplatz in einem Winter-Notquartier für Männer. «Wohin ich danach gehe, weiß ich nicht.» Von König Alkohol hat er sich abgewandt: Seit elf Monaten ist er trocken.

3.200 Nutzer_innen.

Zwischen November und April gibt es im Zuge des Winterpakets in der Zweiten Gruft ein Notquartier mit achtzehn Schlafplätzen für obdachlose Frauen aus EU-Staaten. Es öffnet abends um neun und schließt um acht Uhr morgens. «Wenn sie wollen, können die Frauen von der Notschlafstelle direkt ins Tageszentrum gehen», sagt Petra Schmidt, Leiterin der Zweiten Gruft. Nicht alle Obdachlosen nehmen das Angebot von Notunterkünften wahr, weiß Schmidt. Die Gründe dafür seien vielfältig. Manche mögen die Menschenansammlungen nicht, andere haben Hausverbote. «Wenn jemand lieber im Freien schläft, bekommt er bei uns Isomatte und Schlafsack, bei Bedarf auch Gewand.»
Die erste Winterquartier-Aktion gab es im Winter 2009. Seit damals fördert der Fonds Soziales Wien (FSW) jedes Jahr von November bis April zusätzliche Notquartiere für Obdachlose. Für diesen Zeitraum werden sowohl neue Schlafplätze und Tageszentren geschaffen als auch ganzjährig bestehende erweitert. Waren es im Winterpaket 2009 noch 150 Notschlafplätze, sind es laut FSW im Winter 2018/19 bis zu 1.400 Schlafplätze und 700 Plätze in bestehenden Tageszentren und zusätzlich eingerichteten Wärmestuben. Im Winter 2017/2018 haben nach Informationen des FSW rund 3.200 Frauen und Männer die Angebote des Winterpakets genutzt. Die größte Gruppe seien nach wie vor Österreicher_innen, gefolgt von Leuten aus Rumänien, der Slowakei, Ungarn und Polen.
Neben der Tagesstätte und dem Winter-Notquartier gibt es in der Zweiten Gruft auch das Projekt Kurzzeitwohnen (KuWo). Die meisten obdachlosen EU-Bürger_innen seien nicht versichert. Erkranken diese Menschen, werden sie im Krankenhaus zwar erstversorgt, haben aber keinen Anspruch auf weiterführende Behandlung oder einen Platz im Pflegeheim. Damit sie trotzdem eine Möglichkeit haben, akute Krankheit auszukurieren, können sie KuWo bis zu drei Monate nutzen. Derzeit seien 45 Menschen hier untergebracht, 39 Männer und sechs Frauen. Die Nachfrage ist groß. «Vom ersten Tag an sind wir immer voll», so Schmidt.

Bed and Breakfast bis 8 Uhr Früh.

Auch VinziPort am Rennweg ist ausgelastet. «EU-Bürger sind willkommen», steht auf einem Schild am Hauseingang zu lesen. 2010 eröffnet, war es die erste ganzjährige Notschlafstelle in Wien für EU-Bürger. Zwischen 18 und 22 Uhr können sich Wohnungslose für eine Übernachtung bei der Rezeption anmelden. Bis zu 55 Männer werden auch in dieser Nacht Abendessen, Dusche und ein warmes Bett bekommen. Bis in der Früh um 8, dann müssen sie wieder auf die Straße.
Manche Männer, die hierher kommen, haben kleine Anstellungen; bei der Straßenreinigung, als Schneeschaufler im Winter oder als Straßenmusiker. Andere versuchen etwas zu finden, den meisten gelingt es aber nur schwer, so die Koordinatorin der Wiener VinziWerke Regine Gaber. Der Zugang zur Notschlafstelle sei niederschwellig. «Wenn jemand Ausweis und Bedarf hat und zwei Euro bezahlt, kann er hier nächtigen.»
Einer von ihnen ist Ernö Horvath. Der 71-Jährige kommt aus Debrecen in Ungarn. «Wo die gute Wurst herkommt», erklärt er. Weil er von seiner Pension nicht leben könne und es in Debrecen keine Arbeit für ihn gebe, verkauft er hier den AUGUSTIN. «Um halb sechs in der Früh verlasse ich die Notschlafstelle, nehme die Straßenbahn und die S-Bahn bis Liesing, dann nochmal den Bus.» Nach einer Stunde ist er dann in Perchtoldsdorf (NÖ), wo er vor einem Billa die Straßenzeitung verkauft. Drei Monate am Stück kann Horvath während des Winterpakets im VinziPort nächtigen, zwei Monate während dem Rest des Jahres. Zwischendurch kommt er bei einem Bekannten unter. Ein Zuhause auf Zeit. «Im Durchschnitt schlafen 46 Personen pro Nacht hier», sagt Gaber. Der überwiegende Teil der Gäste komme aus Bulgarien, Polen, Rumänien, der Slowakei und Ungarn. «Die Verschärfung der Gesetze gegen Obdachlose in Ungarn haben sich bis jetzt nicht auf die Nächtigungszahlen ausgewirkt», so Gaber.
Mit der Lage der Notschlafstelle ist sie zufrieden. Vor allem, dass die Gäste nicht auf der Straße, sondern im Vorhof warten können, bis die Tore um 18 Uhr öffnen. Dadurch würden Nachbar_innen kaum auf die Einrichtung aufmerksam, Beschwerden wegen Menschenansammlungen oder Zigaretten am Gehsteig gebe es nicht. Auch das ehrenamtliche Engagement ist beachtlich. «Rund 65 ehrenamtliche Helfer unterstützen das Projekt», so Gaber. Aber: Die Mietdauer ist begrenzt. «Ende März 2020 müssen wir raus.» Lösung gebe es noch keine. Es sei nicht einfach, ein leerstehendes Haus zu finden, das leistbar und für die Klient_innen gut erreichbar ist.

Es geht ums Überleben.

Der Standort der Zweiten Gruft ist so weit gesichert, sagt Petra Schmidt. Dennoch: Einfach sei es nicht immer, muss doch mit geringen finanziellen Mitteln möglichst viel Hilfe geleistet werden. «Die zu uns kommen, sind die Ärmsten der Armen», so Schmidt. Denn EU-Bürger_innen können auf den Großteil der Sozialleistungen, die der Staat zur Verfügung stellt, nicht zurückgreifen. Vom «Einwandern ins Sozialsystem» will Gaber daher nichts wissen: «Diese Leute können kein Sozialsystem ausnutzen, weil sie keinen Zugang dazu haben.» Es seien Hoffnungen, die die Menschen hierher bringen; Hoffnung auf Arbeit, auf Beziehungen, Hoffnung, das Leben zu verbessern. «Kein Mensch verlässt Heimatland, Familie und Umgebung, wenn man sich nicht gezwungen sieht.» Ein rumänischer Klient habe ihr einmal gesagt, wenn er in Rumänien in den Mistkübel schaue, finde er nichts. Der sei leer. In Wien könne er zumindest Essensreste finden. «Da geht es nicht ums Ausnützen eines Systems, da geht es um die Chance, in irgendeiner Weise zu überleben.»

Wieso haben manche Arme eine «Anspruchsberechtigung» für Unterstützung und andere nicht? Wie kommen die «Unberechtigten» durch? Markus Schauta berichtet demnächst im AUGUSTIN.

Vinziport, 3., Rennweg 89A
Zweite Gruft, 18., Lacknergasse 98

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